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Zuschauer bei der Fußball-EM
  • Bei der Fußball-EM sind regelmäßig Zehntausende Zuschauer im Stadion.
  • Foto: dpa/picture alliance

„Verantwortungslos“: Warum die EM zur Delta-Drehscheibe wird

45.000 Zuschauer, keine Masken, keinen Abstand – aber dafür zahlreiche neue Corona-Infektionen. Die laufende Fußball-EM offenbart das, was Experten bereits im Vorfeld befürchtet hatten: Das Turnier gerät zur Drehscheibe für Corona. Schließlich sind die Spielorte derzeit europaweite Hotspots.

Allen voran: London. Mit dem EM-Vorrundenspiel zwischen Schottland und England werden nach jüngsten, offiziellen Angaben knapp 2000 Neuinfektionen in Verbindung gebracht. 400 von ihnen sollen auf Stadionbesuche zurückgehen, der Rest auf Fans, die entgegen aller Ratschläge und Reisewarnungen nach London gereist waren, um das Spiel in Pubs und beim Public Viewing zu verfolgen.

EM: Corona-Ausbreitung bei Fußball-Spielen nimmt zu

Beim Achtelfinale gegen Deutschland waren am Dienstag sogar fast 45.000 Zuschauer im Stadion – rein durfte laut offizieller Vorgabe zwar nur, wer einen negativen Schnelltest hatte. Doch von wem und wie genau das kontrolliert wurde, dazu gibt es kaum belastbare Informationen.

Kommentar: Die Corona-EM und die gnadenlose Ignoranz der UEFA

Trotz aller Kritik plant die UEFA keine Reduzierung der Kapazität – im Gegenteil: Für die beiden Halbfinalspiele und das Finale sind in London sogar jeweils 60.000 Fans zugelassen. Und das, obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz in Großbritannien innerhalb einer Woche von rund 100 auf nun 185,6 stieg und Delta für fast alle Neuinfektionen verantwortlich ist.

„Es ist nicht völlig auszuschließen, dass Veranstaltungen und Versammlungen letztlich zu einer lokalen Erhöhung der Fallzahlen führen könnten“, gab der medizinische Berater der UEFA, Daniel Koch, zwar zu. Er hält das Vorgehen des Verbands dennoch für richtig, denn die Erhöhung der Infektionszahlen, so Koch, würde „nicht nur für Fußballspiele gelten, sondern auch für alle Situationen, die nun im Rahmen der von den zuständigen örtlichen Behörden beschlossenen Lockerungsmaßnahmen erlaubt sind“.

St. Petersburg wird zum Corona-Hotspot bei der Fußball-EM

Nicht nur in London, sondern auch an anderen Spielorten gab es bereits Infektionen im Zusammenhang mit der EM. Nach der Partie zwischen Dänemark und Russland in Kopenhagen wurden 16 neue Fälle gemeldet, bei Finnland gegen Belgien in St. Petersburg waren es 86. Hinzu kommen mindestens neun Ansteckungen unter Spielern – obwohl diese in ihrer Blase streng abgeschirmt werden.

In St. Petersburg findet heute auch das Viertelfinale zwischen der Schweiz und Spanien statt. Es ist schon das siebte EM-Spiel in der russischen Metropole – einem Corona-Hotspot. Seit Beginn des Turniers starben dort offiziellen Angaben zufolge gut 1300 Menschen an oder mit Corona, erst am Dienstag wurde mit 119 Toten binnen 24 Stunden ein neuer Höchstwert erreicht.

Für ihren Umgang mit der Pandemie wird die UEFA scharf attackiert. Man sei „für den Tod von vielen Menschen verantwortlich“, warf SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach den Verantwortlichen vor. Innenminister Horst Seehofer (CSU) bezeichnete das Verhalten der UEFA als „absolut verantwortungslos“. Angesichts der Bilder aus den Stadien sei es „vorgezeichnet, dass dies das Infektionsgeschehen befördert“.

Corona: WHO-Statistiken untermauern Ausbreitung bei der EM

Neue Statistiken der Weltgesundheitsorganisation (WHO) untermauern diese Kritik. Nach einem stetigen Rückgang über zehn Wochen nimmt die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Europa erstmals wieder zu, und zwar um zehn Prozent – wohl auch wegen der EM. Die Bewegung der Zuschauer müsse noch stärker überwacht werden, fordert deshalb die zuständige WHO-Expertin Catherine Smallwood. Das gelte auch für das Verhalten außerhalb der Arenen. „Wir müssen weit über die Stadien selbst hinausblicken“, betont Smallwood besonders im Hinblick auf die Spielorte London und St. Petersburg.

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Die UEFA will dennoch an ihrem Konzept festhalten und schließt eine Verlegung der noch ausstehenden Begegnungen etwa an Standorte mit einer geringeren Fallzahl grundsätzlich aus. Die Maßnahmen seien an jedem Spielort vollständig mit den Regularien der lokalen Gesundheitsbehörden abgestimmt, teilte die UEFA gestern mit. Über die Anzahl der Zuschauer würden die zuständigen lokalen Behörden entscheiden.

Seehofer appellierte jedoch eindringlich an die UEFA, solche Entscheidungen „nicht auf die örtlichen Gesundheitsbehörden abzuschieben“. Vielmehr forderte er, der Verband sollte „klar erklären: Wir wollen das nicht, wir reduzieren die Zuschauerzahl“. Der Kommerz dürfe „nicht den Infektionsschutz für die Bevölkerung überstrahlen“, betonte Seehofer.

Trotzdem werden heute in St. Petersburg 30.000 und nächste Woche in London dann mutmaßlich dreimal jeweils 60.000 Fußballfans live im Stadion singen, jubeln und feiern. Ohne Masken, ohne Abstand. Viele von ihnen dürften wohl nicht nur schöne Erinnerungen mit nach Hause nehmen – sondern auch Delta.

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