Ein Mann fährt mit dem Fahrrad durch Charkiw, neben ihm ragt das Endstück einer Rakete aus der Erde.
  • Ein Mann fährt mit dem Fahrrad durch Charkiw, neben ihm ragt das Endstück einer Rakete aus der Erde.
  • Foto: Andrew Marienko/AP/dpa

„Wir erwarten die Hölle“: Putin ändert Strategie – was der Ukraine nun droht

Russische Truppen ziehen sich aus dem Großraum Kiew zurück: Mit dieser Ankündigung sorgte Moskau vor Kurzem für Aufsehen. Experten warnten jedoch sofort: Das dürfte für die Ukraine kaum Entspannung bedeuten. Und tatsächlich: Es mehren sich die Anzeichen, wonach der Krieg nun noch einmal an Brutalität und Intensität gewinnen könnte.

Mit dem Abzug russischer Truppen aus dem Norden des Landes ist in der Ukraine nach offizieller Darstellung weder Ruhe noch Stabilität eingekehrt. „Die russischen Truppen werden zu noch größeren Operationen im Osten unseres Staates übergehen“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntagabend.

Das unterstrich auch die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar: „Die russische Armee arbeitet weiter an ihrem Minimalplan Ostukraine“, sagte sie in der Nacht zum Montag, wie die Agentur Unian berichtete.

„Wir erwarten die Hölle“: Was der Ostukraine nun droht

Der Generalstab der ukrainischen Armee teilte mit, es würden aktuell neue Truppen aus anderen Landesteilen Russlands an die Grenzen herangeführt. Daneben würden zerschlagene russische Einheiten mit neuem Personal aufgefüllt. Die Schwerpunkte der nächsten russischen Angriffe seien bei Charkiw und Slowjansk zu erwarten, hieß es.

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„Es ist eine Frage von Tagen“, sagte auch Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk. Russische Truppen „stellen sich an der Grenze neu auf und bombardieren uns weiter. Sie kennen keine Moral mehr: Sie machen Krankenhäuser, Schulen und Häuser dem Erdboden gleich“, sagte Hajdaj der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“. In den selbst ernannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk in der Ostukraine haben prorussische Separatisten das Sagen. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte beide als unabhängige Staaten anerkannt und danach einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen.

„Die Schlacht um den Donbass wird mehrere Tage dauern, und während dieser Tage könnten unsere Städte vollständig zerstört werden“, erklärte Hajdaj auf Facebook weiter. „Wir bereiten uns auf ihre Aktionen vor. Wir werden darauf reagieren“, sagte er mit Blick auf die erwarteten Angriffe. Entlang der Frontlinie zu den Gebieten der pro-russischen Separatisten legen ukrainische Soldaten derzeit neue Gräben an und blockieren die Straßen mit Minen und Panzersperren.

Das von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt einen Konvoi gepanzerter Fahrzeuge und Lastwagen, der sich östlich von Charkiw in Richtung Süden bewegt. picture alliance/dpa/Maxar Technologies/AP | Uncredited
Das von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt einen Konvoi gepanzerter Fahrzeuge und Lastwagen, der sich östlich von Charkiw in Richtung Süden bewegt.
Das von Maxar Technologies zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt einen Konvoi gepanzerter Fahrzeuge und Lastwagen, der sich östlich von Charkiw in Richtung Süden bewegt.

Auf die Frage, was nun bevorstehe, sagte Hajdaj zum „Corriere“: „Die Hölle.“ Er erinnerte an Butscha oder Mariupol, wo seit Wochen schlimme Angriffe und Kriegsverbrechen beobachtet werden. „Bei uns wird es noch viel schlimmer“, sagte der Gouverneur. Anders als in anderen Teilen des Landes gebe es in Luhansk für die Ukrainer kaum noch Bunker, in denen sie Schutz suchen können. „Wir verstecken uns in den Kellern. Ich versuche, alle meine Mitbürger zu überzeugen, von hier weg zu gehen.“

„Wir flehen die Menschen an, aus ihren Verstecken zu kommen“

Schon jetzt stehen strategisch wichtige Städte wie Charkiw heftig unter Artilleriebeschuss. Bei einem Angriff auf die Großstadt sind nach ukrainischen Angaben am Sonntag mindestens zwei Menschen getötet worden. Am Vortag wurden demnach zehn Zivilisten in der Region bei Bombenangriffen getötet.

Viele verbliebene Einwohner der Ostukraine haben nach dem verheerenden Luftangriff auf den Bahnhof von Kramatorsk laut Hajdaj Angst, sich auf den Weg Richtung Westen zu machen.

Sie warteten auf ihre Evakuierung: In Kramatorsk sind Dutzende Menschen bei einem Raketen-Angriff getötet worden. Ihre Leichen wurden zum Teil mit Planen abgedeckt. HERVE BAR/AFP
Sie warteten auf ihre Evakuierung: In Kramatorsk sind Dutzende Menschen bei einem Raketen-Angriff getötet worden. Ihre Leichen wurden zum Teil mit Planen abgedeckt.
Sie warteten auf ihre Evakuierung: In Kramatorsk sind Dutzende Menschen bei einem Raketen-Angriff getötet worden. Ihre Leichen wurden zum Teil mit Planen abgedeckt.

Nach neuen Angaben der ukrainischen Behörden wurden bei dem Raketenangriff am Freitag insgesamt 57 Menschen getötet. „Manchmal flehen wir sie an, aus ihren Verstecken zu kommen, weil wir wissen, was als Nächstes kommt“, sagte Hajdaj über die Evakuierungsbemühungen der Behörden. Er warnte, dass die russischen Streitkräfte „alles zerstören werden, was sich ihnen in den Weg stellt“.

Kann Diplomatie weitere Massaker verhindern?

Das russische Verteidigungsministerium hat die Verantwortung für den Angriff auf Kramatorsk zurückgewiesen. Am Sonntag beschuldigte es die Ukrainer und den Westen, „ungeheuerliche und gnadenlose“ Provokationen begangen und Zivilisten in Luhansk getötet zu haben.


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Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warnte unterdessen auf Twitter, dass „russische Propaganda“ den „Boden für diese Gräueltaten“ wie in Butscha oder Kramatorsk „bereitet“ habe. In Butscha und anderen Vororten Kiews waren nach dem russischen Abzug in den vergangenen Tagen Hunderte Leichen gefunden worden.

In einem Interview mit dem US-Sender NBC bekräftigte Kuleba jedoch, er sei weiterhin offen für Verhandlungen. „Wenn ein Treffen mit den Russen mir hilft, wenigstens ein Massaker wie in Butscha oder einen weiteren Angriff wie in Kramatorsk zu verhindern, muss ich diese Gelegenheit nutzen“, sagte er. (mik/afp/dpa)

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