Jugendstrafe für Irmgard F. gefordert
  • Die Angeklagte Irmgard F. (97) wird zu Beginn des Prozesstages in den Gerichtssaal gebracht.
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Frühere KZ-Sekretärin: Welche Strafe die Staatsanwälte für 97-Jährige fordern

Sie ist 97 Jahre alt – und könnte trotzdem mit einer Jugendstrafe davon kommen. Im Prozess gegen Irmgard F., frühere Sekretärin des NS-Konzentrationslagers Stutthof, hat die Staatsanwaltschaft zwei Jahre Haft auf Bewährung gefordert.

Mehr als ein Jahr dauert der Prozess gegen Irmgard F. in Itzehoe schon. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft eine Jugendstrafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung gefordert.

Die 97-Jährige habe durch ihre Arbeit in der Lagerverwaltung Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord an mehr als zehntausend Menschen geleistet, sagte Staatsanwältin Maxi Wantzen vor dem Landgericht Itzehoe. Der Beitrag der Angeklagten zu den Abläufen im KZ sei „wesentlich“ gewesen.

Lager Stutthof bei Danzig: Hier starben geschätzt 65.000 Menschen

Im Lager Stutthof bei Danzig hatte die SS während des Zweiten Weltkriegs mehr als hunderttausend Menschen unter erbärmlichen Bedingungen gefangen gehalten, darunter viele Juden. Etwa 65.000 starben nach Erkenntnissen von Historikern. Die genaue Zahl lässt sich nicht mehr feststellen.

Als Lager war Stutthof berüchtigt für eine völlig unzureichende Versorgung der Gefangenen, die von den Verantwortlichen zu Tötungszwecken absichtlich herbeigeführt wurde. Die meisten Menschen starben an Hunger, Durst, Seuchen und schwerster Sklavenarbeit. Es gab dort aber auch Gaskammern und eine Genickschussanlage, in der kranke und zur Zwangsarbeit nicht mehr fähige Gefangene systematisch und gezielt getötet wurden.

Angeklagte hatte Schlüsselposition im KZ inne

F. war laut Anklage von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Verwaltung des Lagers beschäftigt, wo sie als Stenotypistin direkt für den Kommandanten an zentraler Stelle arbeitete. Da sie zu dieser Zeit zwischen 18 und 19 Jahren alt war, findet das Verfahren gegen sie vor einer Jugendkammer statt. Wantzen nannte es am Dienstag ein Verfahren „von herausragender historischer Bedeutung“. Der Prozess wird am Dienstag kommender Woche mit den Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt.

Die Beschuldigte habe in der Lagerverwaltung von Stutthof eine „Schlüsselposition“ innegehabt sei als Stenotypistin der Kommandanten „durchgängig von essenzieller Bedeutung“ für das Funktionieren des menschenverachtenden Lagerbetriebs gewesen, sagte Wantzen in ihrem Plädoyer. Die Morde dort seien ohne reibungslos arbeitendes bürokratisches System im Hintergrund nicht möglich gewesen. F. habe das Vertrauen des Kommandanten genossen und Umgang mit Dokumenten aller Geheimhaltung gehabt.

„Beispielloses Verbrechen“: Irmgard F. half beim Massenmord

Für die Staatsanwaltschaft stehe fest, dass die Angeklagte die während ihrer fast zweijährigen Dienstzeit in Stutthof stattfindenden Massenmorde „gebilligt“ und durch ihre Tätigkeit gefördert habe, führte die Anklagevertreterin weiter aus. Die Frage nach einer angemessenen individuellen Strafe für jemanden, der sich mit gerade einmal 18 Jahren vor weit mehr als 70 Jahren an einem „beispiellosen Verbrechen“ beteiligt habe, sei gleichwohl schwer zu beantworten, sagte Wantzen.

Zugleich seien Prozesse wie dieser aber „auch heute noch wichtig“, betonte die Staatsanwältin. Sie führten „in eine Zeit, die an Gräueltaten übersteigt, was man sich vorstellen kann“. Sie erinnerte dabei insbesondere an die Aussagen der Überlebenden von Stutthof, die an dem Verfahren als Nebenkläger und Nebenklägerinnen teilnehmen und von dem Grauen in Stutthof berichteten. „Sie fühlen sich verpflichtet, auch wenn sie damit immer wieder ihren Schmerz hervorholen müssen.“

Juristische Neubewertung: Auch kleine Lichter leisteten einen Beitrag zu den Morden

Das Verfahren gegen F. hatte vor etwas mehr als einem Jahr begonnen und ist einer von mehreren NS-Prozessen, die in den vergangenen Jahren gegen ehemalige Mitglieder der Wachmannschaften oder Lagerverwaltung von deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern geführt wurden. Mehrere Männer im Alter von über 90 wurden zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Itzehoer Verfahren ist allerdings das erste mit einer Beschuldigten.

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Hintergrund ist eine veränderte juristische Sicht auf Beihilfe zu dem Massenmord in NS-Todeslagern. Einfache Mitglieder von Wachmannschaften wurden für ihre Tätigkeit jahrzehntelang in aller Regel strafrechtlich nicht belangt. Inzwischen setzte sich allerdings die Ansicht durch, dass bereits jede Tätigkeit im Rahmen der Organisation eines Vernichtungslagers als Beitrag zu den dort begangenen Morden gewertet werden kann. Eine direkte Beteiligung an Tötungen ist nicht nötig. (dpa)

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