Die 96-jährige Angeklagte Irmgard F. (3.v.r) wird von einer Mitarbeiterin des Gerichtsmedizinischen Dienstes in den Gerichtssaal begleitet.
  • Die 96-jährige Angeklagte Irmgard F. (3.v.r) wird von einer Mitarbeiterin des Gerichtsmedizinischen Dienstes in den Gerichtssaal begleitet.
  • Foto: dpa-Pool | Christian Charisius

Itzehoer KZ-Prozess: Überlebende schildert grausame Details

„Verfluchte Judenbande!“ – So wurden eine junge Litauerin und ihre Mitgefangenen 1944 im KZ Stutthof bei Danzig begrüßt. Die heute 93-Jährige schilderte am Dienstag im Prozess gegen eine ehemalige Schreibkraft des Lagers ihren Leidensweg. Die Verteidigung äußerte Kritik an einem Historiker.

Die 1928 in Litauen geborene Asia Shindelman war 1941 nach der deutschen Besetzung des baltischen Landes zunächst mit ihren Eltern in ein Ghetto und drei Jahre später in das KZ bei Danzig gebracht worden. Die SS-Bewacher hätten sie dort mit Peitschen und Hunden empfangen. Den SS-Männern sei alles erlaubt gewesen, sagte sie nach den Worten einer Dolmetscherin. „Die Deutschen konnten uns auch totschlagen.“

KZ-Überlebende berichtet: „Deutsche konnten uns totschlagen“

Nach einem Monat sei sie in ein Außenlager gebracht worden, wo sie und andere jüdische Frauen Gräben zur militärischen Verteidigung ausheben mussten. Heute lebt Shindelman im US-Staat New Jersey. Die Strafkammer vernahm sie per Videokonferenz.

Angeklagt in dem Prozess ist die 96 Jahre alte Irmgard F. Der ehemaligen Schreibkraft wird Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen vorgeworfen. Sie habe von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in der Kommandantur gearbeitet.

Das könnte Sie auch interessieren: 17-Jähriger hingerichtet: Meine Ur-Oma hat diesen Jungen auf dem Gewissen

Zum Auftakt der Verhandlung am Dienstag kritisierte die Verteidigung den historischen Sachverständigen Stefan Hördler. Der KZ-Experte hatte an drei Verhandlungstagen über die Struktur des Lagers Stutthof sowie über die Rolle der Frauen in der KZ-Verwaltung und Bewachung referiert. Anwalt Niklas Weber warf ihm vor, einen für das Verfahren sehr wichtigen Kommandanturbefehl nicht vollständig vorgetragen zu haben.


Der Newswecker der MOPO MOPO
Der Newswecker der MOPO

Starten Sie bestens informiert in Ihren Tag: Der MOPO-Newswecker liefert Ihnen jeden Morgen um 7 Uhr die wichtigsten Meldungen des Tages aus Hamburg und dem Norden, vom HSV und dem FC St. Pauli direkt per Mail. Hier klicken und kostenlos abonnieren.


Mit dem Befehl vom 27. Oktober 1944 sei ein hochrangiger SS-Offizier mit „Sonderaufgaben“ im Lager betraut worden. Dieser Begriff sei wie die „Endlösung“ ein Codewort für Gräueltaten gewesen.

Verteidigung kritisiert Sachverständigen

In dem Befehl sei auch festgelegt worden, dass dem Hauptsturmführer für die „Erledigung der anfallenden schriftlichen Arbeiten in dieser Abteilung“ ein SS-Unterscharführer zur Seite gestellt werde. Diese „besonders beauftragte Person“ sei zur Geheimhaltung verpflichtet gewesen.

Diese Passage des Befehls zu den Schreibarbeiten habe Hördler nicht vorgelesen, obwohl sie für den Vorwurf der Beihilfe zum Mord gegen seine Mandantin eine besondere Bedeutung habe, sagte Weber.

Das könnte Sie auch interessieren: Nach Flucht: Jetzt startet der Prozess gegen die KZ-Sekretärin

Webers Kollege Wolf Molkentin stellte fest: „Nach der bisherigen Beweisaufnahme kann (…) mitnichten davon ausgegangen werden, dass die entscheidenden Fragen zur persönlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten, insbesondere zu ihrer Kenntnis von den im Lagerbereich durchgeführten Mordtaten, bereits im Sinne der Anklage beantwortet wären.“

Die Zeugin Shindelman berichtete, dass sie im Juli 1944 mit ihren Eltern, einem Onkel und ihrer Großmutter in einem Zug aus Viehwaggons nach Stutthof gebracht worden sei. Nach etwa viertägiger Fahrt hätten SS-Männer die Waggontüren aufgerissen und sie zur Eile angetrieben: „Schneller, schneller, verfluchte Judenbande!“ Diesen Ruf gab Shindelman auf Deutsch wieder.

KZ-Inhaftierte trugen nur Nummern, keine Namen

Bei der Trennung der Gefangenen nach Männern, Frauen, Alten und Jungen habe ihre Mutter angegeben, die Tochter sei bereits 18 Jahre alt. So konnte die tatsächlich erst 15-Jährige bei der Mutter bleiben. Bei der Aufnahme ins KZ sei ihr der Name genommen worden, sie sei nur noch die Nummer 54138 gewesen.

Im KZ zählte der eigene Name nicht mehr – wie hier bei der Kennzeichnung politischer Häftlinge im ehemaligen KZ Theresienstadt (Terezin). imago/Schöning
Kennzeichnung politischer Häftlinge im ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt (Terezin)
Im KZ zählte der eigene Name nicht mehr – wie hier bei der Kennzeichnung politischer Häftlinge im ehemaligen KZ Theresienstadt (Terezin).

Die 93-Jährige beschrieb die Bedingungen in dem Lager als unmenschlich. Das Außenlager, vermutlich nahe der Weichsel, habe nur aus Zelten auf dem nackten Grasboden bestanden. Dort hätten sie die Nacht nach den langen Tagen körperlicher Arbeit verbringen müssen.

Das könnte Sie auch interessieren: KZ-Überlebende erinnert sich: Kriegsende: „Vor 76 Jahren war meine Wiedergeburt“

Der Vorsitzende Richter Dominik Groß bat die Zeugin, ihre Erinnerungen ohne die Hilfe ihres Sohnes und einer ebenfalls anwesenden Enkeltochter vorzutragen. Es war jedoch zu sehen, dass sie handschriftliche Notizen vor sich liegen hatte. Das Gericht will die Anhörung der Zeugin am kommenden Dienstag fortsetzen. (dpa/mp)

Email
Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp