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Kinderheilanstalt Bad Salzdetfurth
  • Die Postkarte zeigt die Kinderheilanstalt „Waldhaus“ ​in Bad Salzdetfurth. Es ist eines von zahlreichen Kurheimen für „Verschickungskinder“.
  • Foto: dpa | Hauke-Christian Dittrich

„Verschickungskinder“ brechen Schweigen über schwere Misshandlungen

Jahrzehntelang erlitten tausende Kinder Schikanen und Demütigungen in Erholungsheimen. Noch heute leiden viele betroffene „Verschickungskinder“ unter den Folgen. Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik – dessen Aufarbeitung bis heute andauert.

Sie sollten an der See oder im Gebirge „aufgepäppelt“ werden, stattdessen kehrten Tausende verängstigt oder gar traumatisiert aus der Kur zurück. Was genau geschätzte acht bis zwölf Millionen Kinder erlebten, die zwischen 1945 und 1990 meist für sechs Wochen allein in Heime „verschickt“ wurden, ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Bis zu zwölf Millionen Kinder kamen in Kurheime

Nach ihrer Rückkehr haben viele ihren Eltern nichts von den erlittenen Qualen erzählt, anderen wurde nicht geglaubt. Doch seit 2019 brechen immer mehr frühere Verschickungskinder ihr Schweigen. Rund 5000 von ihnen haben einen standardisierten Fragebogen ausgefüllt, zudem finden sich auf Internet-Plattformen Tausende Erlebnisberichte, die Mehrheit zutiefst erschütternd.

An diesem Wochenende richtet der Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung (AEKV) einen Kongress auf der Nordsee-Insel Borkum aus. Zeitweise gab es dort 30 dieser Erholungsanstalten. Die Kuren wurden von Kinderärzten verschrieben und in der Regel von der Kranken- oder Rentenversicherung finanziert. In Transporten mit der Bundesbahn wurden Mädchen und Jungen im Alter von 2 bis 12 Jahren in die Kurorte an der Nordsee oder in den Bergen gebracht. Dort waren Eltern-Besuche oder -Anrufe verboten – selbst bei Kleinkindern.


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„Das Schlimmste war das Gefühl der absoluten Aussichtslosigkeit“, erinnert sich Sabine Ludwig, die 1964 als Zehnjährige sechs Wochen auf Borkum verbrachte. „Ich war mir sicher, dass ich nie wieder nach Hause zurückkomme. In anderen Heimen wurde man gemästet, wir haben gehungert.“

Ihre Erlebnisse verarbeitete die Berliner Autorin 2014 in dem Buch „Schwarze Häuser“ für Leserinnen und Leser ab zehn Jahren. Ludwig kann seit ihrem Borkum-Aufenthalt nicht mehr mit mehreren Menschen in einem Raum schlafen. Traumafolgen von Schikanen in Duschräumen, Essens- sowie Schlafsälen können aber auch Angststörungen oder Depressionen sein.

Methoden ähnelten der Zeit des Nationalsozialismus

Nach den Recherchen des Betroffenenvereins hatten die körperlichen und seelischen Misshandlungen System und waren nicht etwa temporäre Ausrutscher in wenigen schlecht geführten Einrichtungen. „Warum hören wir aus so vielen Heimen das Gleiche?“, fragt Anja Röhl, Mitgründerin vom AEKV. „Dazu gehören ein extrem militärischer Umgangston, niemals Trost, Verbot von Lachen, von Weinen, Redeverbot, Schlafzwang, Essenszwang, nächtliches Toilettenverbot.“ Häufig berichten Betroffene, dass Bettnässer öffentlich bloßgestellt oder Kinder gezwungen wurden, Erbrochenes aufzuessen. Röhl sieht Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Die 66-Jährige hofft darauf, dass möglichst bald die 5000 mit dem Berliner Nexus-Institut konzipierten Fragebögen ausgewertet werden. Schon im Mai 2020 hatte die Familienministerkonferenz die Bundesregierung aufgefordert, die Vorkommnisse auf Bundesebene aufzuklären. Jedoch herrscht seit einem ersten Gespräch Anfang dieses Jahres Funkstelle. Der Fachaustausch mit Betroffenen-Vertreterinnen und -Vertretern solle möglichst bald fortgesetzt werden, heißt es aus dem Bundesfamilienministerium.

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Die Verschickung war ein Massenphänomen. 1143 Heime tauchen in einem Verzeichnis aus dem Jahr 1964, die meisten in Baden-Württemberg, gefolgt von Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.

Die Diakonie Niedersachsen ließ voriges Jahr drei Todesfälle in einer Einrichtung in Bad Salzdetfurth untersuchen. Dort wurde 1969 innerhalb weniger Monate ein Dreijähriger von drei sechs Jahre alten Jungen totgeprügelt. Ein Siebenjähriger erstickte an Erbrochenem und ein Mädchen starb infolge einer Infektion. Bei allen Todesfällen könne man zumindest ansatzweise Fahrlässigkeit unterstellen, heißt es im Fazit der Studie. Inzwischen wurde im Auftrag der Diakonie auch zu anderen Erholungsstätten geforscht.

Dienten Kinderkuren zur Geschäftemacherei?

In Hamburg läuft eine Studie zu Heimen der Ballinstiftung, der Abschlussbericht soll 2023 folgen. Auch die Landtage von Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg beschäftigten sich mit dem Schicksal der Verschickungskinder.

Die Betroffenen verlangen laut Röhl vorerst keine Entschädigungen, wie sie ehemalige Heimkinder für erlittenes Unrecht in der frühen Bundesrepublik oder in der DDR beantragen können. Notwendig seien aber ein Dokumentationszentrum sowie Hilfen bei den Recherchen individueller Schicksale sowie gesellschaftlicher Ursachen.

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Eine zentrale Frage ist, warum sich das System über Jahrzehnte halten konnte und wer von den Kuraufenthalten von teils völlig gesunden Mädchen und Jungen profitierte. Nach Analyse der Historikerin Hilke Lorenz gab es eine „Gesundheitsfürsorgeindustrie, die unabhängig vom medizinischen Nutzen an den Kinderkuren als lukrativem Wirtschaftszweig in strukturschwachen Regionen verdiente“.

Lorenz plädiert ebenso für eine umfassende Aufarbeitung. In ihrem Buch „Die Akte Verschickungskinder“ schreibt sie: „Dass Schläge und psychischer Zwang in der Erziehung dieser Zeit üblich waren, entschuldigt nichts.“ (dpa/fbo)

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