Peter Fricke (r.) erhielt 1990 ein Spenderherz, 2007 auch Tochter Julia (l.)
  • Peter Fricke (r.) erhielt 1990 ein Spenderherz, 2007 auch Tochter Julia (l.)
  • Foto: dpa | Ole Spata

Vater und Tochter: Wir teilen ein dramatisches Schicksal

In der Corona-Pandemie geraten andere Krankheiten leicht in Vergessenheit. Zum Beispiel warten Tausende Menschen auf ein lebensrettendes Spenderorgan. Julia Fricke wurde auf diese Weise sogar zwei Mal ein neues Leben geschenkt. In ihrer Familie ist die junge Frau damit nicht alleine.

„Er ist immer bei mir“, sagt Peter Fricke über den unbekannten Spender, dessen Herz seit mehr als 30 Jahren in seiner Brust schlägt. „Vielleicht steht er gerade hinter mir und stößt mich an, wenn ich irgendwelchen Mist erzähle.“ Ob der Spender ein Mann oder eine Frau war, habe ihn nie interessiert. „Was zählt ist, dass er etwas Tolles gemacht hat. Ich bin ihm unendlich dankbar für 32 geschenkte Lebensjahre.“ Peter Fricke sitzt im Garten seines Hauses in Bockenem (Landkreis Hildesheim) rund 70 Kilometer südlich von Hannover. An diesem Spätsommertag erinnert er sich an den 27. Dezember 1990, bis heute feiert er diesen Tag als seinen zweiten Geburtstag.

Vater und Tochter benötigten Spenderherzen

Der 35-jährige Vater von drei kleinen Töchtern liegt Ende 1990 im Vinzenz-Krankenhaus in Hannover und wartet seit Monaten auf ein Spenderorgan. „Am Morgen nach Weihnachten kam die Schwester rein und sagte, Herr Fricke, es geht los. Die haben ein Herz für Sie gefunden. Wir fahren jetzt in die Medizinische Hochschule.“ Als er nach der Operation aufwacht, sieht er als erstes weiße Laken. „Ich dachte, bist du jetzt im Himmel? Doch dann kam dieselbe Schwester um die Ecke, und da wusste ich, du hast es geschafft!“

Peter Fricke ist nicht der einzige in seiner Familie, der eine so schwere Zeit durchmachen muss. Auch seine Tochter Julia braucht als junge Erwachsene ein Spenderherz.

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Vater Fricke erholt sich genauso schnell wie ihn die verschleppte Herzmuskelentzündung zuvor zu einem Todkranken gemacht hat. Zwar muss er täglich Medikamente nehmen und hat einen Schwerbehindertenausweis, aber davon lässt er sich nicht aufhalten. Der frühere Bundeswehrsoldat steigt wieder bei seinem Arbeitgeber ein, einem Versicherungsunternehmen. „Ich habe nach der Transplantation noch 17 Jahre gearbeitet“, erzählt der 67-Jährige. „Bis zu einem Burnout, wohl ausgelöst durch die Transplantation von Julia. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, warum wir unsere Töchter nach meiner Herzerkrankung nicht untersuchen lassen haben.“

Ob bei Julia Fricke frühzeitig überhaupt etwas festgestellt worden wäre, ist fraglich. Nach Aussage ihrer Ärzte wurde ihr Herz durch die Geburt ihres Sohnes im Juli 2004 geschädigt. Als die 20-Jährige nach zwei Monaten ihre Ausbildung zur Krankenschwester fortsetzt, ist sie ständig müde und erschöpft, sie hat einen Ruhepuls von 140 und Atemnot. Bei einer Untersuchung kommt heraus: Das Herz ist bereits stark vergrößert, die Mitralklappe – eine der vier Klappen des Herzens – schließt nicht richtig.

Mangel an gespendeten Organen in Deutschland

Was dachte die junge Mutter, als die Ärzte ihr eröffneten, dass sie in den nächsten zehn Jahren ein neues Herz benötigen wird? „Ich habe sofort an meine Beerdigung gedacht“, sagt die heute 38-Jährige. „Ich wusste ja von meinem Vater, wie lange die Wartezeiten auf Spenderorgane sind.“ Peter Fricke engagiert sich seit Jahrzehnten in der Selbsthilfe. Anfang September gab er den Vorstandsvorsitz des Bundesverbandes der Organtransplantierten ab und wurde zum Ehrenvorsitzenden ernannt.

Julia (l.) und Peter Fricke stehen im Garten der Familie in Bockenem – beide leben mit einem Spenderherz. dpa | Ole Spata
Julia (l.) und Peter Fricke stehen im Garten der Familie in Bockenem – beide leben mit einem Spenderherz.
Julia (l.) und Peter Fricke stehen im Garten der Familie in Bockenem – beide leben mit einem Spenderherz.

Derzeit stehen 8524 Menschen auf der Warteliste von Eurotransplant für ein Spenderorgan, davon benötigen 685 Personen ein neues Herz (Stand 31. August). Die gemeinnützige Stiftung koordiniert die Vermittlung von Spenderorganen in acht europäischen Ländern. Die Deutsche Stiftung Organspende (DSO) berichtete im April von einem dramatischen Einbruch der Organspende im ersten Quartal 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Hintergrund ist laut DSO unter anderem die Arbeitsbelastung in den Kliniken aufgrund erhöhter Personalausfälle wegen Corona-Infektionen.

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Auch die Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG) beklagt den Mangel an Organspendern in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern. Derzeit ist die Entnahme von Organen nach dem Tod nur zulässig, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten oder stellvertretend die Angehörigen zugestimmt haben. In anderen Ländern ist eine Organentnahme an einem hirntoten Verstorbenen auch zulässig, wenn dieser einer Organentnahme nicht ausdrücklich widersprochen hat.

Auch Julia Fricke musste auf ein Spenderorgan warten. Im März 2006 wird sie auf die Transplantationsliste gesetzt, im November 2007 erhält sie endlich ein neues Herz. Noch heute ist sie enttäuscht darüber, dass ihr nach der OP nicht ermöglicht wurde, ihre Ausbildung fortzusetzen. In der Zwischenzeit hatte der Träger ihrer Klinik gewechselt. „Ich war alleinerziehend. Was macht man da, um nicht Hartz IV zu kriegen?“ Sie habe zeitweise 200 Stunden im Monat in einem Restaurant gearbeitet und später Nachtschichten in einer Einrichtung für psychisch Kranke übernommen.

Julia Frickes Körper stößt erstes Spenderherz ab

Wenn das erste Jahr überstanden ist, können viele Patienten lange mit einem neuen Herzen leben. Julia Frickes transplantiertes Herz aber wird nach fast fünf Jahren abgestoßen. „Das war nachweislich der Stress“, glaubt ihr Vater. Also noch ein neues Herz? Weltweit gehen etwa drei Prozent der Spenderherzen an Patienten, die eine erneute Transplantation benötigen, wie Herzchirurg Jan Gummert berichtet. Er ist ärztlicher Direktor des Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen (HDZ) in Bad Oeynhausen. Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 329 Herzen transplantiert, das bundesweit größte Zentrum ist das HDZ.

Für Julia Fricke folgt nach der Abstoßung ihres Spenderherzens ein Kampf auf Leben und Tod: Die 27-Jährige kommt auf die Intensivstation der MHH, wird an das Herz-Lungen-Unterstützungssystem Ecmo angeschlossen. Peter Fricke erinnert sich an die traumatische Zeit: „Wir sind sonntags hingefahren, da hat uns die Ärztin gesagt: Wenn wir bis Dienstag kein Herz für Julia finden, dann können wir sie nicht mehr halten. Das war das Schlimmste für uns.“ Am nächsten Tag sei seiner Frau auf dem Flur ein Arzt entgegengekommen mit den Worten: „Das Wunder von Hannover: Wir haben ein Herz für Julia gefunden!“ Es wird in der Nacht auf ihren 28. Geburtstag im Juni 2012 transplantiert.

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Mehr als zehn Jahre schlägt dieses Herz jetzt in ihrer Brust, ein Teil der Narbe ist im Ausschnitt ihres T-Shirts zu sehen. Was hat sich verändert durch das Wunder, das zweite Spenderherz? Julia Fricke erzählt, wie sie in den ersten Wochen nach der Operation mühsam wieder das Laufen lernte, sie wog aufgrund von Wassereinlagerungen 100 Kilo. „Als ich es in der MHH endlich nach unten geschafft und den ersten Cappuccino getrunken hatte, habe ich mir geschworen, dass ich nun jeden Cappuccino in meinem Leben genieße“ sagt die 38-Jährige, die inzwischen stundenweise im Nagelstudio ihrer Schwester arbeitet.

Julia Fricke ist eine Kämpferin – nur wenige Monate nach der Entlassung aus der Klinik fuhr sie mit ihrem Sohn und ihrem Freund sowie dessen beiden Söhnen zum Wandern nach Bayern. Mit dem Spender ihres dritten Herzens kommuniziert sie nach eigenen Worten manchmal abends, wenn sie allein ist. Die schwere Krankheit hat sie gelassen gemacht. Anders als ihr Freund regt sie sich nicht über unaufgeräumte Zimmer der Teenager auf, wie sie erzählt. „Mein Ziel vor der ersten Transplantation war, die Einschulung meines Sohnes zu erleben. Jetzt ist er 18 und vielleicht erlebe ich irgendwann auch noch Enkelkinder.“

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