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  • Fotos der brennenden Bornplatzsynagoge gibt es nicht. Hier eine Aufnahme aus Hannover. Überall im Deutschen Reich zündeten Nazis am 9. und 10. November 1938 Synagogen an.
  • Foto: dpa

Vor genau 85 Jahren: Als Synagogen brannten und SS-Männer auf Torarollen pinkelten

Seit den jüngsten Terrorangriffe der Hamas auf Israel zeigt sich, wie erschreckend allgegenwärtig der Antisemitismus in Deutschland immer noch ist. Wenn die Stadt am kommenden Donnerstag den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht begeht, dann wird das anders sein als sonst, kündigt Daniel Sheffer von der Stiftung Bornplatzsynagoge an. „Jüdisches Leben in Hamburg und Deutschland ist bedroht“, sagt er, und deshalb solle von der diesjährigen Gedenkveranstaltung eine klare Botschaft ausgehen: Dass jüdisches Leben ein Teil Deutschlands sei, und zwar „mitten in unserer Gesellschaft“. Sheffer: „Nie wieder ist jetzt!“ So lautet das Motto des Gedenkens.

Die Veranstaltung findet am 9. November zwischen 16.30 und 17.30 Uhr auf dem Joseph-Carlebach-Platz statt. Viele Persönlichkeiten werden Reden halten: neben politischen Vertretern wie Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) weitere Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“: unter anderem Bischöfin Kirsten Fehrs, Hamburgs DGB-Chefin Tanja Chawla, die Klimaschutz-Aktivistin Luise Neubauer, die Schriftstellerin und Ehrenbürgerin Kirsten Boie und der türkische Journalist Deniz Yücel. Daniel Sheffer selbst wird die Veranstaltung moderieren und Landesrabbiner Shlomo Bistritzky spricht das El-Male-Rachamim-Gebet, eine jüdische Totenklage.

Die 1911 fertiggestellte Bornplatzsynagoge im Grindelviertel soll in den kommenden Jahren wiederaufgebaut werden. Am 9. November 1938 wurde sie zunächst verwüstet, kurz darauf in Brand gesteckt. Staatsarchiv Hamburg
Bornplatzsynagoge
Die 1911 fertiggestellte Bornplatzsynagoge im Grindelviertel soll in den kommenden Jahren wiederaufgebaut werden. Am 9. November 1938 wurde sie zunächst verwüstet, kurz darauf in Brand gesteckt.

Der „spontane Volkszorn“ ist von langer Hand organisiert

Was ist vor 85 Jahren in Hamburg und im Rest Deutschlands passiert? Der 9. November 1938 ist ein Mittwoch. Um 23.55 Uhr erreicht ein Fernschreiben aus Berlin die Gestapo-Leitstelle Hamburg. Es werde überall im Reich zu „Aktionen gegen Juden“ kommen, heißt es da. „Sie sind nicht zu stören“, so lautet die Anweisung.

Joseph Goebbels, Adolf Hitlers Einpeitscher, wird später von „spontanem Volkszorn“ sprechen, von „tiefer Empörung des deutschen Volkes“ über den Mord an Ernst Eduard vom Rath in Paris. Aber hier ist gar nichts spontan, sondern alles organisiert. Das Pogrom ist seit Langem geplant, nur ein Anlass hat gefehlt. Und den liefert der 17-jährige Herschel Grynszpan, als er am 7. November aus Empörung über die willkürliche Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich – darunter seine Eltern – Schüsse auf den deutschen Diplomaten abfeuert.

Das Archivbild vom 10.11.1938 zeigt eine jüdische Ladenfront nach der Zerstörung durch Nazis. Zersplitterte Schaufenster und Scherben auf der Straße trugen dem Pogrom die verharmlosende Bezeichnung „Reichskristallnacht“ ein. dpa
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Das Archivbild vom 10.11.1938 zeigt eine jüdische Ladenfront nach der Zerstörung durch Nazis. Zersplitterte Schaufenster und Scherben auf der Straße trugen dem Pogrom die verharmlosende Bezeichnung „Reichskristallnacht“ ein.

In Hamburg gehen die Nazis mit besonderer Inbrust gegen Juden vor

Als vom Rath am 9. November seinen Verletzungen erliegt, ist die Nazi-Elite gerade in München versammelt. Hitler, Goebbels und Hamburgs Gauleiter Karl Kaufmann feiern im „Bürgerbräukeller“ den 15. Jahrestag des Novemberputsches von 1923. Die Nachricht vom Tod des Diplomaten trifft während eines „Kameradschaftsabends“ ein, und Joseph Goebbels hält sofort eine antisemitische Hetzrede, die in einem Appell nach Vergeltung und Rache gipfelt.

Die anwesenden Gauleiter verstehen genau, was das heißt und geben gleich darauf Befehle telefonisch an ihre Dienststellen weiter. Auch Karl Kaufmann. In Hamburg gehen SA und SS mit großer Hingabe ihrer Zerstörungslust nach. Am Rathausmarkt beobachtet ein Anwohner mitten in der Nacht zivil gekleidete Männer, die von uniformierten SA-Leuten in Gruppen aufgeteilt werden. Jede Gruppe erhält einen Anführer. Gegen 1 Uhr marschieren die Männer los. Um 3.30 Uhr wird dann mit dem Einschlagen der Fenster begonnen.

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Besonders große Verwüstungen richten die Nazi-Schläger in der Innenstadt an. „Unger“ an der Mönckebergstraße wird demoliert, am Neuen Wall das Fotogeschäft „Campbell“ sowie die Modehäuser „Robinsohn“ und „Hirschfeld“. Wo der Nazi-Mob fertig ist, ist der Asphalt mit Glasscherben übersät – so entsteht später die zynische Bezeichnung „Reichskristallnacht“.

Die Nazis machen Jagd auf Juden, nehmen 879 Personen in Haft

Zerstörte Schaufensterscheiben am Morgen nach der sogenannten Reichspogromnacht am 10. November 1938. Nach dem Anschlag auf den deutschen Botschafter in Paris, Ernst von Rath, begann am 9. November 1938 die rigorose Verfolgung der Juden in Deutschland. AP-Photo/Archiv
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Zerstörte Schaufensterscheiben am Morgen nach der sogenannten Reichspogromnacht am 10. November 1938. Nach dem Anschlag auf den deutschen Botschafter in Paris, Ernst von Rath, begann am 9. November 1938 die rigorose Verfolgung der Juden in Deutschland.

Wie Inhaber Hans Robinsohn sein Geschäft am nächsten Morgen vorfindet, hat er in seinen „Erinnerungen“ festgehalten: „Erdgeschoss und erster Stock sahen wie nach einer Beschießung aus. Sämtliche Fenster waren eingeschlagen. Schreibmaschinen waren mit Brecheisen auseinander gebrochen, alle Schaufensterpuppen in den hinter den Häusern gelegenen Alsterkanal geworfen. Alle Glastische und -schränke waren zerstört …“

Es bleibt nicht allein bei Zerstörungen. Häscher schwärmen aus und machen Jagd auf Juden. Der Befehl lautet, so viele Personen festzunehmen, wie in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Mindestens 879 Bürger jüdischen Glaubens werden in der Gestapo-Zentrale im Stadthaus zusammengeschlagen, gefoltert und im KZ Fuhlsbüttel eingekerkert. Einige entziehen sich der Festnahme – springen aus dem Fenster oder hängen sich auf.

Die Ruine der Bornplatzsynagoge wurde 1939 abgerissen. Staatsarchiv Hamburg
Bornplatzsynagoge
Die Ruine der Bornplatzsynagoge wurde 1939 abgerissen.

Am Morgen des 10. November schlagen gegen 6 Uhr Flammen aus der Bornplatzsynagoge. Eine Gruppe von Menschen hat sich vor der Synagoge versammelt – Scheiben werden eingeworfen und Feuer gelegt. Randalierer dringen in das Gebäude ein und schänden die Tora und andere kultische Gegenstände. Erst um 21.50 Uhr, fast 16 Stunden nach Brandbeginn, meldet die ortsansässige Feuerwehr, dass ein Kleinfeuer in der Synagoge ausgebrochen sei.

Augenzeugin Ruth Frank ist damals zwölf Jahre alt. Als sie mit ihrem Fahrrad auf dem Weg zur Schule an der Bornplatzsynagoge vorbeikommt, herrscht dort Chaos. NS-Schergen haben die Mosaikfenster zerschlagen, Kultgegenstände und Mobiliar auf die Straße geworfen. Schockiert beobachtet das Mädchen, wie SS-Männer in Schaftstiefeln und „mit aufgeknöpften schwarzen Hosen“ dastehen und auf die „Rollen der Heiligen Schrift“ pinkeln. Andere SS-Männer tragen alles weg, was von Wert ist – darunter auch die silbernen Torakronen.

„Dicker schwarzer Rauch quoll aus den Fensterruinen“

Ein anderer Zeuge ist er: der 13-jährige Schlomo Schwarzschild. „Als ich atemlos am Bornplatz ankam, sah ich das Schreckliche. Die Jüngeren schienen amüsiert. Die anderen standen meist schweigend mit ernsten Mienen herum. Einige grinsten schadenfroh. Dicker, schwarzer Rauch quoll aus den Fensterruinen. Zerfetzte Torarollen und Gebetsbücher lagen in den Scherbenhaufen. Dieser Moment bedeutete für mich das traumatische Ende meiner Kindheit. Es war mir klar, dass es hier in Deutschland für uns Juden keine Zukunft geben könne.“

Daniel Sheffer ist Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge. Er treibt die Wiedererrichtung voran. Patrick Sun
Sheffer
Daniel Sheffer ist Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge. Er treibt die Wiedererrichtung voran.

Für Hamburger Juden ist es jetzt höchste Zeit, die Stadt zu verlassen. Für die, die bleiben, beginnt die Hölle auf Erden. Dem Pogrom folgt ein Bündel gesetzgeberischer antijüdischer Maßnahmen. Unter anderem wird ihnen jede selbstständige berufliche Tätigkeit untersagt. Das Ziel: den Juden endgültig die Existenzgrundlage zu nehmen und sie aus Deutschland zu verjagen, aber nicht, ohne ihnen vorher noch ihr Vermögen zu rauben.

Das gilt auch für die jüdische Gemeinde, die 1939 praktisch enteignet wird: die Ruine der Bornplatzsynagoge wird abgerissen. Das Grundstück reißt sich die Stadt unter den Nagel. Mehr als acht Jahrzehnte später, im September 2023, gibt Hamburg den Joseph-Carlebach-Platz an die Gemeinde zurück. Dort soll in den kommenden Jahren die Bornplatzsynagoge neu gebaut werden.

Am Donnerstag wird es neben der zentralen Feier auf dem Joseph-Carlebach-Platz noch weitere Gedenkveranstaltungen in Hamburg geben: Das Kulturschloss Wandsbek (Königsreihe 4) lädt ab 19 Uhr alle Interessierten zur Präsentation einer neuen digitalen Karte über das jüdische Leben in Wandsbek ein.

Die Initiative „Kein Vergessen im Weidenviertel“ bittet die Bürger darum, um 18 Uhr zur Namenstafel der Juli-Deportierten von 1942 (Haupteingang der Ganztagsgrundschule Sternschanze) zu kommen. Der 100-jährige Kurt Goldschmidt, ein Augenzeuge des Pogroms, wird aus New York via Internet zugeschaltet sein und zu den Teilnehmern sprechen. An Hunderten Stolpersteinen im Viertel werden Kerzen aufgestellt.

Der Hamburgische Richterverein nimmt den Jahrestag der Reichspogromnacht zum Anlass, der Richter zu gedenken, die während des NS-Regimes aus dem Amt getrieben, verfolgt und ermordet wurden. Um 11 Uhr werden die zwölf Stolpersteine, die vor dem Ziviljustigebäude verlegt sind, geputzt und geschmückt. „Im Lichte der aktuellen Vorkommnisse ist es dem Richterverein ein besonderes Anliegen, ein Zeichen gegen Unmenschlichkeit und Antisemitismus zu setzen“, heißt es in einer Presseerklärung. Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) wird ein Grußwort halten.

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