20 Minuten lang erlebt man die Welt aus der Perspektive einer obdachlosen Person: Die Virtual-Reality-Experience UNHOME soll Obdachlosigkeit erfahrbar machen –und den eigenen Blick auf das Thema verändern.

20 Minuten lang erlebt man die Welt aus der Perspektive einer obdachlosen Person: Die Virtual-Reality-Experience UNHOME soll Obdachlosigkeit erfahrbar machen – und den eigenen Blick auf das Thema verändern. Foto: Marius Röer

Überleben auf der Straße – ein virtuelles Selbstexperiment

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Man sitzt in der eigenen Wohnung und erfährt, dass man gekündigt wurde. Kann passieren. Wochen später, Monate später hat man immer noch keinen neuen Job. Mittlerweile sieht die Wohnung staubig aus, auf dem Tisch häufen sich unbezahlte Rechnungen und Mahnungen. Man hat kein Geld mehr, die Freunde wenden sich von einem ab, man kann die Miete nicht mehr zahlen: Man verliert seine Wohnung – und plötzlich ist man obdachlos.

So beginnt UNHOME, eine 20-minütige Virtual-Reality-Experience, die das Thema Obdachlosigkeit erfahrbar machen und in der Bildungsarbeit eingesetzt werden soll. Hinter der VR-Experience steht GoBanyo, eine gemeinnützige Organisation, die einen Duschbus für obdachlose Menschen betreibt.

Die Idee zu UNHOME kommt von Chris Poelmann (Mitgründer von GoBanyo und Co-Produzent von UNHOME). Da GoBanyo sich verpflichtet hat, Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten, wollte Poelmann ein Angebot schaffen, das nahbar ist und Teilnehmende emotional abholt. Denn: „Wenn betroffene Menschen von ihren Erfahrungen berichten, lässt sich das Thema am besten vermitteln”, sagt Poelmann. Das ist in der Umsetzung jedoch schwierig. Denn Personen, die auf der Straße leben, können schlecht als Bildungsreferenten arbeiten und ehemals Obdachlose könnten durch die Erzählungen re-traumatisiert werden. GoBanyo leistet vor allem in Schulen Bildungsarbeit und hat die VR-Experience zusammen mit einem Workshop für sechs Monate getestet. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und die Ergebnisse zeigen, dass die immersive Erfahrung zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit führt und Vorurteile abbaut.

„Niemand gibt mir etwas, niemand würdigt mich auch nur eines Blickes“

„Für UNHOME haben wir versucht, eine verdichtete Geschichte von Obdachlosigkeit zu erzählen, die sich aus vielen Erfahrungsberichten zusammensetzt.“ In der virtuellen Realität erfährt man aus der eigenen Perspektive, was es bedeutet, obdachlos zu sein. Und wie schnell man auf der Straße landen kann. Denn die VR-Experience fängt in einer Situation an, die sich fast jeder vorstellen kann: Man sitzt in der eigenen Wohnung, das Smartphone liegt auf dem Couchtisch. Dann die Nachricht: Man hat seinen Job verloren.

Der letze Blick in die eigene Wohnung – danach sitz man auf der Straße. GoBanyo/ UNHOME
Der letze Blick in die eigene Wohnung – danach sitz man auf der Straße.
Der letze Blick in die eigene Wohnung – danach sitz man auf der Straße.

Ich, die MOPO-Reporterin, setze die Brille auf und erlebe Schritt für Schritt, wie das Leben über mir zusammenfällt. Plötzlich sitze ich bei der Sternbrücke auf der Straße und habe nichts mehr. Passanten ziehen an mir vorbei. Ich entscheide mich dazu, meine Hand auszustrecken und sie nach Geld anzubetteln. Niemand gibt mir etwas, niemand würdigt mich auch nur eines Blickes. Ich merke, wie mir eine sehr reale Träne über die Wange läuft. Wenn man auf der Straße lebt, wird man nicht mehr als Mensch behandelt, denke ich. Und das ist erst der Anfang der Abwärtsspirale in meiner persönlichen VR-Experience.

MOPO-Reporterin Katharina Langenbach streckt während der VR-Experience ihre Hand zum Betteln aus. Leider ohne Erfolg. Marius Röer
MOPO-Autorin Katharina streckt während der VR-Experience ihre Hand zum Betteln aus. Leider ohne Erfolg.
MOPO-Reporterin Katharina Langenbach streckt während der VR-Experience ihre Hand zum Betteln aus. Leider ohne Erfolg.

Der Perspektivwechsel verdeutlicht die eigene Ignoranz

In der VR kann man Entscheidungen treffen, die den Verlauf der Geschichte beeinflussen. Zum Beispiel, ob man nach Geld bettelt, oder nicht. Jede Person wird also eine andere Erfahrung machen, andere Situationen durchleben und vielleicht mit einem anderen Fazit aus der Experience rausgehen. Als ich die Brille wieder absetze, überkommt mich ein mulmiges Gefühl: Weggucken und ignorant sein – das mache ich im Alltag auch. Wie sich das anfühlt, darüber mache ich mir meistens keine Gedanken. Dann betrachte ich meine Hände, die sind sauber und unversehrt. Das sah in den letzten 20 Minuten auch anders aus…

In der Virtual-Reality-Experience UNHOME wird man in die Lage einer obdachlosen Person versetzt. Und erfährt hautnah, wie das Leben auf der Straße aussieht. GoBanyo/ UNHOME
In der Virtual-Reality-Experience UNHOME wird man in die Perspektive einer obdachlosen Person versetzt. Und erfährt hautnah, wie das Leben auf der Straße aussieht.
In der Virtual-Reality-Experience UNHOME wird man in die Lage einer obdachlosen Person versetzt. Und erfährt hautnah, wie das Leben auf der Straße aussieht.

Durch den erlebten Perspektivwechsel wird einem die eigene Ignoranz vor Augen geführt. Und das ist auch so gewollt: „Wir möchten, dass Personen dadurch ihr eigenes Handeln reflektieren und anpassen“, sagt Chris Poelmann. „Menschen auf der Straße fühlen sich wie Geister. Wir wollen erreichen, dass man diese Menschen wahrnimmt und nicht wegschaut.“

Nach der VR-Experience wollen viele ihr Handeln verändern

Nicolas Staarke, der Bildungskoordinator von GoBanyo, betont: „Junge Menschen haben oft Vorurteile gegenüber obdachlosen Menschen – die wollen wir abbauen. Und das geht nur dann, wenn man einen direkten Kontakt herstellt. Über die VR ist das möglich, denn da kann ich am eigenen Leib erfahren, was ein Leben auf der Straße bedeutet und wie sich die Lebensrealität dieser Menschen anfühlt.“ Und das Konzept scheint zu funktionieren: „Wir erleben ganz oft, dass junge Leute nach der Experience ihr Handeln verändern wollen. Manchmal entwickelt sich daraus sogar Aktivismus.”

Nicolas Staarke (38) und Chris Poelmann (42) von GoBanyo sind die Personen hinter UNHOME. Marius Röer
Nicolas Staarke (38) und Chris Poelmann (42) von GoBanyo sind die Personen hinter UNHOME.
Nicolas Staarke (38) und Chris Poelmann (39) von GoBanyo sind die Personen hinter UNHOME.

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Ab dem 7. Oktober wird UNHOME kostenfrei im META Store zur Verfügung stehen. Das ist ein Online-Shop des Unternehmens META, in dem man VR-Spiele herunterladen kann. Die Unterlagen zu dem komplementären Workshop werden über die Website von UNHOME bereitgestellt und können unter anderem von Bildungseinrichtungen genutzt werden. „Unser Ziel ist, dass möglichst viele Personen die VR-Experience sehen“, so Poelmann. Denn nach einer EU-Resolution soll Obdachlosigkeit bis 2030 abgeschafft sein. Von diesem Ziel ist man aber noch weit entfernt: allein in Hamburg leben ca. 3800 Menschen auf der Straße. Und damit doppelt so viele wie vor sechs Jahren.

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