Ex-HSV-Kapitän Heiko Westermann
  • Ex-HSV-Kapitän Heiko Westermann spielte selbst 27 Mal für Deutschland.
  • Foto: imago/Sportfoto Rudel

„Furchtbare Pfiffe!“ Ex-HSV-Kapitän Westermann nimmt Sané in Schutz

Von allen deutschen Nationalspielern reist er mit dem größten Rucksack nach London. Die Pfiffe, die Leroy Sané beim 2:2 gegen Ungarn vom eigenen Anhang kassierte, dürften ihm noch immer in den Ohren klingen. Fragen begleiten ihn. Wie wird der 25-Jährige die Anfeindungen verkraften? Wie konnte es dazu kommen, dass einer der größten Hoffnungsträger des Kaders plötzlich zum Buhmann wird? Und warum passiert so etwas gerade in Deutschland immer wieder?

Da war kein Ausdruck von Freude. Wie auch? Während die meisten seiner Kollegen nach dem lange Zeit so hochgradig gefährdeten Weiterkommen aufatmeten, stapfte Sané frustriert vom Platz. In seinem Gesicht war kein Platz für ein Lächeln. Zwei Mal wurde er vom Münchner Publikum gegen die Ungarn übel ausgepfiffen, zuletzt nur Sekunden vor dem Abpfiff. Vor allem das blieb beim Bayern-Star hängen.

Sané bekam von vielen Experten schallende Ohrfeigen

Es dauerte nicht lange, da meldeten sich die Experten zu Wort. Im Staccato-Takt, links, rechts, links, schlugen die Ohrfeigen bei Sané ein. „Er bringt Deutschland nicht weiter“, erklärte Lothar Matthäus. „Er ist momentan nicht mehr in der Form und der Verfassung, der Mannschaft helfen zu können“, bemängelte Markus Babbel. Das klang zumindest noch sachlich. Den Vogel aber schoss Mehmet Scholl ab, der feststellte: „Der Typ verfolgt uns, das ist unser Running Gag.“ Eine eigentlich unfassbare Aussage.

Wie muss sich das anfühlen, wenn alle auf dir rumhacken? Wenn dich sogar das eigene Publikum auspfeift? Heiko Westermann stutzt kurz, als die MOPO ihn erreicht. „Die alten Geschichten“, sagt der frühere HSV-Kapitän, der sich noch ziemlich gut an den 2. August 2011 erinnern kann. Knapp zehn Jahre ist es her, da wurde „HW4“ zur Zielscheibe zahlreicher HSV-Fans, die ihn im Test gegen Valencia (1:2) im Volkspark bei fast jedem Ballkontakt mit Pfiffen bedachten. „Ich bin über die Pfiffe erbost“, sagte Westermann damals sichtlich geschockt.

Ex-HSV-Kapitän Westermann weiß, wie sehr Pfiffe schmerzen können

Was am Mittwoch mit Sané passierte, hat der 37-Jährige, der selbst 27 Mal für Deutschland spielte, genau verfolgt. „Das ist das Schlimmste, was dir im Fußball passieren kann“, lautet Westermanns Urteil zu den Pfiffen. „Ich fand das ganz furchtbar. Du wirst ja auch Profi-Fußballer, um vor großen Kulissen zu spielen, mit den Fans zu feiern und ihnen Freude zu machen. Von den eigenen Fans ausgepfiffen zu werden, das geht gar nicht. Es ist sehr schwer, das vor allem nach kurzer Zeit wegzustecken.“

Nun ist Sané nicht der erste deutsche Nationalspieler, der von den eigenen Fans aufs Korn genommen wird. Ilkay Gündogan widerfuhr dies 2018, vor der WM und nachdem das folgenschwere Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an die Öffentlichkeit geriet. Nach dem Testspiel in Leverkusen gegen Saudi-Arabien weinte Gündogan aufgrund der Reaktionen der Fans. Timo Werner kann ebenfalls ein Lied davon singen, wie es ist, verschmäht zu werden. Nach seiner Schwalbe gegen Schalke im August 2017 musste er monatelang mit Pfiffen bei Länderspielen leben. Und das sind nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.

Sané und die Pfiffe – es bleiben viele Fragen

Warum ist das so? Wieso passiert das immer wieder? Warum suchen sich deutsche Fans in Abständen immer mal wieder einen speziellen Sündenbock?

Sanés Problem sind ganz sicher die an ihn geknüpften Erwartungen, gepaart mit seinem mitunter lustlos wirkenden Auftritten. Noch dazu kleidet er sich privat gern extravagant. Ein Mix, der bei den Fans schnell das Bild eines abgehobenen Multi-Millionärs verfestigt.

Als Joker tut sich Bayern-Star Sané besonders schwer

Diejenigen, die Sané besser kennen, berichten hingegen von einem zwar scheuen aber ganz sicher nicht abgehobenen jungen Mann. Von einem Zweifler, der seine eigene Messlatte sehr hoch legt und schnell mit sich hadert. Wie bei dieser EM, die eigentlich seine werden sollte. Nach eher mäßiger Vorbereitung verlor Sané seinen Platz in der Startelf, als Joker (wie gegen Frankreich und Portugal) tut er sich schwer. Wie sehr er mit sich zu kämpfen hat, offenbarte er dann gegen die Ungarn.

„Da ist mental eine Blockade da, die er momentan einfach nicht lösen kann“, erklärte Babbel und nannte das Kind damit beim Namen. Unter Umständen war es das schon mit Sané bei dieser EM. Diesem Zauberkünstler mit Weltklasse-Qualitäten, der noch zu häufig an sich selbst scheitert.

Wird Sané bei dieser EM noch überzeugen können?

Westermann hofft noch auf die schnelle Wende zum Guten, vielleicht schon am Dienstag, im EM-Achtelfinale in England. Über die Pfiffe, die er im Sommer 2011 kassierte, kann er mittlerweile hinwegsehen. „Ich war damals beim HSV nun mal einer derjenigen, die im Fokus standen und viel in der Presse waren. Da ist es normal, dass sich Kritik auch auf dich kapriziert“, sagt er routiniert. Möglich, dass Sané in zehn Jahren ähnlich abgeklärt über die Erlebnisse des Ungarn-Spiels sprechen kann. Zurzeit ist da aber nur dieser verdammt schwere Rucksack, prall gefüllt mit negativen Emotionen, die kein Mensch braucht.

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