„Das große Heft“: Dieses Stück am Schauspielhaus ist so heftig, dass Tränen fließen
Emotionaler wird es dieses Jahr nicht mehr in einem Hamburger Theater: „Das große Heft“ arbeitet am Schauspielhaus mit kalkulierter Überwältigung. Auf der Bühne unter anderen: Überlebende des Hamburger Feuersturms.
Kann man sich gegen die Gräuel des Krieges abhärten? Sich also aus einem Überlebensinstinkt heraus so weit abstumpfen, dass sämtliche Emotionen erstickt werden? Einen solchen Prozess beschreibt die Autorin Àgotha Kristóf in ihrem Roman „Das große Heft“ anhand zweier Brüder. Die Zwillinge werden von ihrer Großmutter getriezt und geschunden, bis sie „normaler“ Gefühle nicht mehr fähig sind.
Zugleich tritt die Inszenierung von Regisseurin Karin Henkel den Gegenbeweis an. Sieben Überlebende des Hamburger Feuersturms aus dem Jahr 1943 legen auf der Bühne Zeugnis von ihren Erlebnissen ab. Diese sind von einer solchen Wucht, dass im Parkett Tränen fließen …

Kristof Van Boven und Nils Kahnwald spielen die beiden namenlosen Zwillinge grandios. Sie reden synchron, ergänzen sich, sprechen Dialoge anderer Personen. „Wir misstrauen den Worten“, sagen sie. Sie kennen nur Zustandsbeschreibungen, keine Gefühlsäußerungen: „Dem Wort Lieben fehlt es an Genauigkeit.“ In den Kriegswirren werden sie von der Mutter bei ihrer Oma untergebracht.
Dort sind sie fast auf sich allein gestellt. Sie beschimpfen und schlagen sich gegenseitig, um sich gegen die feindselige Welt zu wappnen. Sie sind Missbrauchsopfer, die lernen, Grausamkeit weiterzugeben. Julia Wieninger spielt die Großmutter und die Autorin, die von ihrem eigenen Stoff gequält wird.
„Das große Heft“ in Hamburg: Schauspielhaus-Stück lässt niemanden kalt
Aber plötzlich reißt Nils Kahnwald die vierte Wand ein und spricht zum Publikum: Er verweist auf den historischen Ort, dieses Hamburger Schauspielhaus. Dann kommen die sieben Zeitzeug:innen auf die Bühne. Die Ü85-Gruppe erzählt von ihren Kindheitserfahrungen. Harald war sechs Jahre alt, Walter drei, Lissy fünf. Sie berichten, wie oft sie im Luftschutzbunker waren, wie sie über verbrannte Körper steigen mussten, wie Dieter an seinem achten Geburtstag die Leiche seines Freundes Jürgen sah. Marione, damals sieben, wurde gerettet, denn zwei Tage nach dem Feuersturm wäre sie nach Theresienstadt deportiert worden.

Es fallen Sätze wie „Dieses Bild habe ich bis heute nicht vergessen“ oder „Diese Gerüche ertrage ich bis heute nicht“. Die Traumata sind real, diese Kinder sind acht Jahrzehnte nach dem Schreckenstag mitnichten abgestumpft.
Der Kontrast in der Inszenierung ist bewusst krass gesetzt, die Kluft mit dem emotionalen Hammer hineingeprügelt. Kein Zweifel: Dieses Stück lässt niemanden kalt.
Schauspielhaus: 18.11., 6.,/7.12., je 19.30 Uhr, 11-59 Euro, Tel. 24 87 13
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