Kinder im Feuersturm: Wie die Opfer auch 80 Jahre danach noch leiden
„Wenn ich Gomorrha höre, dann überkommt es mich bis heute wie ein Albtraum“, sagt Harald Hinsch und kann es irgendwie immer noch nicht fassen, am Leben geblieben zu sein. Wenn er über diese furchtbaren Tagen im Sommer 1943 erzählt, als sich Hamburg in ein Flammenmeer verwandelte, verdunkelt sich sein Gesichtsausdruck, die Augen werden feucht. Die MOPO hat mit Hinsch und anderen Zeitzeugen über ihre Erinnerungen an die Operation Gomorrha gesprochen.
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„Wenn ich Gomorrha höre, dann überkommt es mich bis heute wie ein Albtraum“, sagt Harald Hinsch und kann es irgendwie immer noch nicht fassen, am Leben geblieben zu sein. Wenn er über diese furchtbaren Tagen im Sommer 1943 erzählt, als sich Hamburg in ein Flammenmeer verwandelte, verdunkelt sich sein Gesichtsausdruck, die Augen werden feucht. Die MOPO hat mit Hinsch und anderen Zeitzeugen über ihre Erinnerungen an die Operation Gomorrha gesprochen.
80 Jahre Operation Gomorrha. Die MOPO hat den Jahrestag zum Anlass genommen, noch einmal auf die Suche zu gehen nach Zeitzeugen, nach Menschen, die aus erster Hand berichten können, wie sie diese Hölle er- und überlebt haben. Es ist so ziemlich die letzte Gelegenheit gewesen, das zu tun, denn wenn Hamburg 2033 den 90. Jahrestag der Luftangriffe begeht, dann wird da kaum noch jemand sein, der erzählen kann.
80 Jahre „Operation Gomorrha“: Als alliierte Bomber die Stadt in Schutt und Asche legten
Zwei Dutzend Frauen und Männer zwischen 86 und 92 haben uns in den vergangenen Wochen Rede und Antwort gestanden – einer davon der 86-jährige Werner Hinsch. Das Ereignis war so einschneidend, dass selbst die, die bei der „Operation Gomorrha“ erst sechs, sieben Jahre alt waren, alles genau vor Augen haben: Sie hören immer noch die Sirenen, spüren, wie die Bombeneinschläge näher und näher kommen, sehen sich, wie sie ihr Gesicht im Rock der Mutter vergraben.
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Während unserer Interviews gab es herzzerreißende Szenen: Menschen brachen in Tränen aus oder mussten ihre Erzählung unterbrechen. Es ist unübersehbar: Wirklich fertiggeworden mit dem, was damals geschah, ist kaum jemand. Harald Hinsch beispielsweise leidet bis heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Um sich alles von der Seele zu schreiben, verfasste er ein Buch.
Beim 91-jährigen Gerhard Strübing merkten wir, wie gut es ihm tat, über alles zu reden – endlich konnte er es mal loswerden. Manche haben körperliche Gebrechen davongetragen, die bis heute nachhallen: Ilse Seibt (87) beispielsweise hat seit den Bombennächten Asthma und wird es nicht mehr los.
Zwei Drittel der Überlebenden haben bis heute tiefe Narbe auf ihrer Seele
Nach dem Krieg wurde über das Erlebte zumeist geschwiegen. Es gab ein unausgesprochenes Tabu. „Reden durften die, die gerechtfertigt waren durch Widerstand oder Verfolgung“, so der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter. „Die anderen, die auf der Seite der Täter – wie unwillig auch immer – mitfunktioniert hatten, verspürten ein Schweigegebot.“ Ihr Opfer zählte nicht. Nicht mal das der Kinder, die ja nun zweifellos unschuldig waren.
Erst um die Jahrtausendwende änderte sich etwas. Die Kriegskinder entdeckten die Beschädigungen, die sie erlitten hatten. Als 2007/2008 Psychiater des UKE und Historiker der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Uni Hamburg damit begannen, Überlebende der Operation Gomorrha zu befragen, kamen sie zu dem Ergebnis, dass noch bei einem Drittel posttraumatische Symptome festzustellen sind und bei einem weiteren Drittel eine – wie Wissenschaftler es nennen – „basale Erschütterung“.
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Verblüffend ist: Nicht nur die Zeitzeugen selbst leiden, auffallend oft auch ihre Kinder. Die Wissenschaftler stellten bei ihren Befragungen fest, dass die Hälfte der weiblichen und ein Drittel der männlichen Nachkommen bei sich negative Folgen der „Operation Gomorrha“ wahrnehmen, obwohl sie selbst nicht dabei waren: Sie leiden unter Ängsten vor der Zukunft, vor terroristischen Anschlägen, vor einem erneuten Krieg. In einigen Fällen berichteten Nachkommen gar von ausgeprägter allgemeiner Lebensangst, von fehlendem Vertrauen und diffusen existentiellen Ängsten.
Für die Wissenschaftler keine Überraschung. Schon länger ist erwiesen, dass unsere Eltern uns nicht nur ihre Gene vererben. Auch ihre Lebensbedingungen, ihr Stress, ihre Krankheiten und Nöte schlagen sich in unserem Erbgut nieder. Epigenetik so lautet die Fachrichtung, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt.
Zeitzeugin Lore Hempel: „Ich habe immer noch Albträume davon“
Zeitzeugin Lore Hempel (85) ist auf St. Pauli aufgewachsen, im Haus Hamburger Hochstraße 14. Sie erinnert sich gut: „Wenn Luftalarm war, sind wir zu dem Bunker gelaufen, der sich unterm Spielbudenplatz befand. Meine Mutter nahm immer ein feuchtes Tuch mit. Das legte sie über uns Kinder. Sie selbst schulterte einen Rucksack und hatte einen kleinen Koffer bei sich mit den wichtigsten Habseligkeiten. Als dann dieser schlimme Angriff war, in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1943, kamen wir mehrere Tage nicht mehr aus dem Bunker raus. Irgendwann sagte meine Mutter, wir sollten warten, sie wolle allein nachsehen, ob unser Haus noch steht. Dann ist sie raus in diese Hölle. Wir Kinder hatten furchtbare Angst um sie. Was waren wir erleichtert, als sie wieder da war! Sie brachte gute Nachrichten mit: Wir hatten tatsächlich riesiges Glück. Die Häuser rechts und links waren nur noch Trümmer. Aber unser Haus ist stehen geblieben.“
Von den furchtbaren Nächten im Bunker hat Lore Hempel bis heute Albträume. „Ich träume dann, wie ich meine Großmutter in einer Kinderkarre in den Bunker schiebe. Und wenn ich mit ihr im Bunker bin, gucke ich nach oben und dann ist da kein Dach, nur Himmel. Das träume ich immer wieder und wache schweißgebadet auf.“
Noch ein anderes Ereignis aus der Zeit der Luftangriffe hat Lore Hempel nachhaltig traumatisiert: Wohl um die Kinder in Sicherheit zu wissen, schickte die Mutter sie und ihren älteren Bruder Karl-Heinz weg. „Wir beide kamen nach Pirna zu Pflegeeltern. Uwe, das Nesthäkchen, durfte bei Mutter zu Hause bleiben.“ Darunter, von der Mutter nicht so geliebt worden zu sein wie der kleine Uwe, leidet Lore Hempel bis heute.
Zeitzeuge Harald Hinsch: „Wir waren ausgebombt, mussten danach im Keller hausen“
Harald Hinsch, geboren 1937, lebte in Winterhude, als im Juli 1943 die britischen Bomber Hamburg angriffen. „Nach dem Aufheulen der Sirenen hörten wir bereits nach kurzer Zeit die ersten Einschläge. Es war ein tiefes Donnergrollen, das zunehmend lauter wurde. In diesem Getöse ging unser Angstgeschrei völlig unter. Wir rannten um unser Leben zum Bunker. Auf dem Weg dorthin hörten wir das immer lauter werdende Brummen der Bomber, das Bellen der Flak.
Im Bunker hatte jeder seinen Platz. Durch meterdicke Betonwände von der Außenwelt getrennt, vernahmen wir ein Tosen und Krachen. Der Koloss Bunker wackelte, als wenn ein Riese daran rüttelte. Das Licht ging aus, die Schreie wurden immer lauter. Mein Bruder Claus und ich versuchten in unsere Mutter hineinzukriechen vor Angst. Sie beruhigte und tröstete uns, indem sie ein Liedchen vor sich hin summte und uns in ihren Armen bedächtig hin und her schaukelte.
Die Außengeräusche wurden weniger. Der Luftschutzwart öffnete die schweren Stahltüren. Heiße verbrannte Luft, Qualm und Aschenregen kamen uns entgegen. Unsere Mutter schrie: ,Unser Haus brennt!‘ Über Trümmerberge stolpernd liefen wir weiter zu unserem Haus. Es gab keine intakten Stockwerke mehr. Die rechte Seite war vom Dachstuhl bis zum Erdgeschoss weggerissen. Mit einem dumpfen, alles übertönenden Knall stürzte die noch verbliebende Fassade in sich zusammen. Von unserem Haus im Knickweg stand nun nichts mehr.“
Weitgehend unbeschädigt blieb lediglich der Keller, und darin mussten Harald Hinsch, sein Bruder und seine Mutter die nächsten Wochen wohnen.
Zeitzeugin Ilse Seibt: „Seit den Luftangriffen habe ich Asthma“
Bis heute steckt sie ihr in den Knochen: die Angst, die sie als Kind durchlitten hat. Ständig gab es Fliegeralarm, nie konnte sie sicher sein, ob sie lebend wieder raus dem Bunker kommt.
Die 87-jährige Ilse Seibt ist in Eilbek aufgewachsen, genauer gesagt im Haus Eilbeker Weg 70, wo ihr Vater Inhaber eines Fischhandels war: „Fisch Peter“. „Bei uns nebenan gab es ein Farbengeschäft, und meine Mutter hatte panische Angst: ,Wenn der Farbenhöker einen Volltreffer bekommt, fliegen wir alle in die Luft!‘ Sie hat dann vorsichtshalber die wichtigsten Habseligkeiten in Koffer gepackt und sie in der Nähe der Wohnungstür abgestellt – in der Hoffnung, dass wir im Falle eines Falles möglichst viel retten können.
1941 oder 1942 wurde das Haus bei uns gegenüber getroffen. All das Feuer, die Toten! Ich bekam davon einen Schock und erkrankte an Asthma – darunter leide ich heute noch. Mir ging es so schlecht, dass meine Eltern mich in ein Kinderkrankenhaus in den Harz bringen mussten.
Dann kam der Sommer 1943. Die ,Operation Gomorrha‘: Ich war zu der Zeit immer noch im Harz und erwartete gerade den Besuch meiner Mutter. Ich werde nie vergessen, wie eine Krankenschwester zu mir sagte: ,Es kann gar nicht sein, dass deine Mutter kommt. Hamburg ist platt.‘ Damit hat sie mir natürlich fürchterliche Angst gemacht und ich war unfassbar erleichtert, als Mutter dann doch kam. Auch mein Vater hat den Angriff überlebt – aber unser Geschäft existierte nicht mehr.“
Zeitzeuge Gerd Steinebach: „Ein Offizier brüllte: ,Wer durchdreht, wird erschossen!’“
Gerd Steinebach, Jahrgang 1932, wuchs in der Marienthaler Straße in Hamm auf. „Unser Haus befand sich direkt am Hasselbrookbahnhof. Und dieser Umstand hat uns wohl auch das Leben gerettet, damals im Sommer 1943“, sagt er. „Es war die Nacht vom 27. auf den 28. Juli, die Nacht des Feuersturms. Wir sind damals nicht zum Luftschutzbunker gelaufen, es rechnete ja niemand mit dieser Katastrophe. Meine Mutter, meine fünf Geschwister und ich haben im Keller Schutz gesucht. Aber dann bekam das Haus einen Volltreffer und wir mussten raus. Zur Straße hin war der Fluchtweg versperrt, da gab es ein einziges Flammenmeer. Wir hatten nur eine Chance: Hinten raus. An einer Mauer, die an den Hasselbrookbahnhof grenzte, gab es eine Stelle, die für den Fall eines Luftangriffs so präpariert war, dass man sie leicht eindrücken konnte. Da sind wir durch. Meine Mutter umklammerte ein Köfferchen mit Papieren. Wir haben uns dann in der Unterführung des Bahnhofs verkrochen und dort irgendwie überlebt.
Am nächsten Tag wollte es gar nicht hell werden. Der Himmel war voller Rauch. Irgendwann kam ein Lkw, der uns abholte und uns in die Graf-Goltz-Kaserne in Rahlstedt brachte, wo wir ein paar Tage blieben. Ich erinnere mich an viele traumatisierte Flüchtlinge und an Frauen, die hysterisch schrien. Ein Offizier lief mit einer Pistole herum und schrie: ,Wer hier durchdreht, wird erschossen.‘“
Zeitzeuge Gerhard Strübing: „Die Straßen waren gepflastert mit Leichen“
„Wir haben direkt gegenüber vom Michel gewohnt“, erzählt Zeitzeuge Gerhard Strübing (91). „Heute verläuft da, wo das Haus stand, die Ludwig-Erhard-Straße.“ Der Angriff erfolgte in der Nacht von Samstag, 24. Juli, auf Sonntag, 25. Juli. „Sonntag wollten wir eigentlich zu Oma in den Schrebergarten nach Niendorf fahren. Aber aus dem Besuch wurde nichts, denn in der Nacht gegen halb elf, zwölf Uhr gab es Fliegeralarm. Wir haben uns dann in den Luftschutzbunker gerettet, der sich in der Krypta des Michels befand. Von draußen drangen Geräusche zu uns, die sich anhörten wie der Weltuntergang. Drei Tage haben wir im Bunker zugebracht. Nichts zu essen bekamen wir, nichts zu trinken.
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Dann sind wir raus. Meine Mutter hatte meine kleine Schwester auf dem Arm, ich lief nebenher. Überall auf der Straße lagen Trümmer und Phosphor, der nicht aufhören wollte zu brennen. Wo unser Haus stand, gab es nur noch eine Schutthalde. Überhaupt war alles ein einziges Trümmermeer. Wir sind dann zum Börsengebäude am Adolphsplatz gelaufen und haben da im Keller endlich was zu essen bekommen. Wir wollten raus aus der Stadt, nach Wien, wo sich meine Geschwister befanden. Aber Züge fuhren ja nicht. Wir sind dann zu Fuß Richtung Bergedorf und haben dabei Billstedt, Hammerbrook und Horn passiert. Ich möchte nicht sagen, was ich dort gesehen habe …“
Gerhard Strübing weint. Dann erzählt er es doch: „Völlig verkohlte Leichen. Überall. Der Heidenkampsweg war übersät mit Leichen. Drei fielen mir besonders ins Auge. Ich werde ihren Anblick nie vergessen: Eine Frau, die ihr Baby auf dem Arm hielt und an der Hand ein weiteres Kind. So lagen die drei da. Kohlrabenschwarz. Es war einfach furchtbar.“