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  • Vili-Viorel Paun (22) versuchte mit seinem Mercedes den Attentäter von Hanau zu stoppen – und wurde von diesem erschossen. 
  • Foto: picture alliance/dpa

Trotz Zwangseinweisung in Klinik: Attentäter von Hanau konnte Waffen besorgen – legal!

Hanau –

Es ist kaum zu glauben: Beim Terroranschlag von Hanau ermordete ein Mann neun Menschen aus rassistischen Motiven – während die Notrufe bei der Polizei nicht durchkommen. Doch der Attentäter verwandelte sich nicht über Nacht vom braven Bürger in einen Mörder: Tobias Rathjen (43) war den Behörden bekannt. Und nicht nur das: Trotz Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik konnte er seine Waffen legal erwerben.

Neun ermordete Menschen, ein polizeibekannter Täter, ein verschlossener Notausgang. Und: ein überlasteter und nicht ausreichend besetzter polizeilicher Notruf. Nach Recherchen des „Spiegels“, des ARD-Magazins „Monitor“ und des Hessischen Rundfunks kamen am 19. Februar vergangenen Jahres in Hanau zahlreiche Zeugen unter der Notrufnummer 110 nicht durch – unter ihnen auch ein späteres Opfer des Attentäters.

Hanau: Polizei-Dienststelle überlastet – Notrufe kamen nicht durch

Für seinen Amoklauf brauchte der Täter nur wenige Minuten. Zunächst tötete Rathjen drei Menschen in der Innenstadt, fuhr dann zweieinhalb Kilometer nach Hanau-Kesselstadt und erschoss sechs weitere Menschen. Unter den Opfern auch Vili-Viorel Paun (22), der mutig versuchte, den Attentäter zu stoppen.

Mit seinem Mercedes probierte Paun, den BMW von Rathjen zuzuparken und raste ihm dann nach Kesselstadt hinterher – während er dreimal versuchte, die Polizei zu alarmieren. Doch er kam nicht durch. Rathjen tötete Paun im Anschluss an die Verfolgungsjagd mit drei Schüssen durch das Fenster der Fahrertür auf dem Parkplatz vor der Arena Bar.

Hanau Attentat

Die Opfer von Hanau.

Foto:

imago images/rheinmainfoto

Im Aktenvermerk der Hanauer Polizei heißt es laut „Spiegel“-Recherchen, dass die Dienststelle aufgrund der hohen Anzahl von Anrufen überlastet war. Nur an zwei Arbeitsplätzen der Polizeiwache Hanau 01 wurden die Notrufe bearbeitet, zudem habe es technische Störungen beim Mitschnitt gegeben. An andere Dienststellen wurden die Anrufe nicht umgeleitet.

Trotz psychischer Störung: Täter besaß seine Waffen legal

Die Ermittlungsakte der Bundesanwaltschaft zeigt auch, dass der Täter über die Jahre drei Berechtigungen ausgestellt bekam, die ihm erlauben, Waffen zu besitzen – obwohl er psychisch krank und polizeibekannt war. Rathjen kaufte und besaß demnach die Tatwaffen, zwei Pistolen, legal. Eine dritte hat er sich in einem Waffengeschäft ausgeliehen.

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In Deutschland darf eigentlich nur jemand Zugang zu Waffen haben, der für niemanden eine Gefahr darstellt – doch die Realität sieht anders aus: Eine Anfrage der Grünen im Bundestag ergab, dass allein 750 Rechtsextremisten und rund 500 Reichsbürger im Jahr 2019 Waffenbesitzkarten hatten.

Attentäter von Hanau war der Polizei bekannt

Zwar fiel der Attentäter von Hanau bis zu seiner Tat nicht als Rassist auf, wohl aber als psychisch kranke Person. Er stellte unter anderem drei wahnhafte Anzeigen und tauchte über die Jahre in 15 polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Akten auf. 

So rief Rathjen im Januar 2002 im Polizeipräsidium Oberfranken an um eine „psychische Vergewaltigung“ anzuzeigen. Er sei das Opfer und werde „durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt“.

Wie der „Spiegel“ berichtete, wurde er daraufhin zum Gesundheitsamt eskortiert, wo ein Amtsarzt unter anderem eine „Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ diagnostizierte. Seine Empfehlung: sofortige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Rathjen griff daraufhin jedoch die Polizisten an und stürmte aus dem Zimmer – es brauchte vier Beamten, um ihn zu Boden zu ringen. Er wurde in Handschellen die Klinik gebracht, doch seinem Vater gelang es mithilfe eines Anwalts ihn rauszuholen. Auf dem Entlassungsformular wurde „ungeheilt“ angekreuzt.

Mehrere Vorfälle und Verfahren verlaufen im Sande

Es folgten mehrere Untersuchungen und Vorfälle, doch Rathjen blieb weiterhin unbehandelt. Zwei Verfahren gegen ihn – wegen Drogenschmuggels und Erschleichens von Sozialhilfe – wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Trotz all dieser Vorkommnisse konnte sich Rathjen im April 2013 unbehelligt seine Waffenbesitzkarten erstellen lassen: eine zum Erwerb und Besitz von Schusswaffen, die andere für Sportschützen. Rathjen musste dabei auf der letzten Seite der dafür notwendigen Formulare ankreuzen, ob sich die Waffenbehörde an das Gesundheitsamt wenden dürfe. Doch die Behörde unternahm diesen Schritt nie – trotz Einwilligung von Rathjen. Denn: Das Formular war veraltet.

Seit 13 Monaten galt zu dieser Zeit bereits ein Erlass des hessischen Innenministers Boris Rhein an die Waffenbehörde, keine Regelanfragen mehr an die Gesundheitsämter zu stellen. Man sollte nur noch „bei konkretem Anlass“ nachfragen. Die Waffenbehörde hielt sich daran, forderte lediglich einen Auszug aus dem Bundeszentralregister an. Hier gab es jedoch keine Eintragungen. Der Erlass des hessischen Innenministers ging auf eine bundesweite Verwaltungsvorschrift zurück. Der Attentäter von Hanau konnte den Behörden zwischen den Fingern entgleiten. (vd)

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