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Virologe Christian Drosten
  • Bei allem Optimismus gibt Christian Drosten für diesen Winter noch keine Entwarnung.
  • Foto: imago images/Jens Schicke

Top-Virologe Drosten erklärt: Das machen wir in der Corona-Bekämpfung (noch) falsch

Hamburg –

Trotz Lockdown sind die täglichen Corona-Fallzahlen in Deutschland weiter hoch – auch wenn langsam ein kleiner Abwärtstrend erkennbar scheint. Doch das könnte nur eine trügerische Sicherheit sein. Deutschlands Top-Virologe Christian Drosten warnt: Wenn wir nicht aufpassen, landen wir bald bei 100.000 Neuinfektionen pro Tag. Denn: Noch immer machen wir hierzulande bei der Bekämpfung des Virus zu viele Fehler, wie Drosten in einem „Spiegel“-Interview erklärt.

1. Wir schätzen die Corona-Mutationen falsch ein

Dass Viren mutieren, ist normal. Das Problem: Unter Umständen sind die mutierten Varianten gefährlicher als das Ursprungsvirus. So ist es wohl auch bei B.1.1.7., der Corona-Mutation, die zuerst in Großbritannien auftauchte und sich mittlerweile auch im Rest Europas ausgebreitet hat. Drosten gibt im „Spiegel“ zu: Auch er habe „am Anfang (…) ein bisschen Zweifel“ gehabt, dass B.1.1.7. „tatsächlich so viel ansteckender ist, wie behauptet wurde“.

Aber: Eine neue Studie aus Oxford zeige, „dass diese Mutante bis zu 35 Prozent infektiöser ist als der Wildtyp des Virus. Es ist schon erstaunlich, dass das Virus derart an Ansteckungsfähigkeit zugelegt hat“, so der Experte. Dass das mutierte Virus so viel ansteckender sei, mache es „leider gefährlicher, als wenn es tödlicher geworden wäre; denn jeder neue Infizierte wird dadurch mehr Menschen anstecken und jeder dieser Menschen wiederum mehr Menschen, sodass die Zahl der Infizierten exponentiell wächst.“

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Deswegen seien die aktuell sinkenden Fallzahlen wohl trügerisch. „Nach allem, was wir wissen, beginnt B.1.1.7 gerade erst, sich in Deutschland auszubreiten.“ Bedeutet: Wenn wir nicht aufpassen, werden die Corona-Zahlen bald massiv steigen. 

2. Unsere Homeoffice-Quote ist zu niedrig

Da die britische Mutation derart ansteckend sei, laute das oberste Gebot weiter: Kontakte vermeiden – auch im Beruf. Was Deutschland und den zurückliegenden Corona-Gipfel von Bund und Ländern angeht, findet Drosten: „Da hätte man sicher noch mehr tun können.“ Ein gutes Beispiel für die Effektivität strikter Homeoffice-Regeln sei Irland: Dort habe man im Herbst „strikt auf Homeoffice gedrängt, und das war anscheinend sehr effektiv.“ Auch, weil sich automatisch die Belegung von Bussen und Bahnen reduziere.

Zudem sei es wichtig, „benachteiligte oder auch schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen“ besser zu unterstützen und anzusprechen, so Drosten. „Hier breitet sich das Virus oft schlagartig aus, weil viele Menschen in beengten Verhältnissen wohnen und Jobs haben, die es ihnen einfach nicht ermöglichen, im Homeoffice zu arbeiten.“ Außerdem: „Viele verstehen vielleicht auch die mit engen Räumen zusammenhängende Problematik noch nicht richtig. Ich glaube, da kann man noch viel bewirken“, erklärt der Virologe.

3. Der R-Wert ist zwar unter 1 – aber immer noch zu hoch

Eine der wichtigsten Kennzahlen bei der Pandemie-Bekämpfung ist der sogenannte R-Wert. Er gibt an, wie viele weitere Menschen ein Corona-Infizierter ansteckt. Derzeit liege der Wert in Deutschland bei 0,9. „Aber 0,9 reicht nicht, wenn wir die Bremse schnell wieder lockern wollen. Bei 0,9 dauert es ungefähr einen Monat, bis sich die Infektionszahlen halbieren. Das ist zu lang“, so Drosten.

Tatsächlich sollte Deutschland versuchen, auf einen Wert von 0,7 zu kommen – und zwar, in dem der Shutdown verschärft wird, findet Drosten. „Dann halbieren sich die Fallzahlen in nur einer Woche, und man kann es schaffen, sie so stark zu senken, dass wir die Ausbreitung von B.1.1.7 stoppen oder uns zumindest einen Vorsprung verschaffen können“.

4. Wir unterschätzen die Rolle von Kindern bei der Virusausbreitung

„Rein biologisch betrachtet, ändert sich die Schleimhaut im Nasen-Rachen-Raum nicht so stark beim Heranwachsen. Also müssen Kinder auch infiziert – und infektiös sein“, erklärt Drosten. „Dass daran so grundlegende Zweifel aufkommen konnten, war mir ein Rätsel und ist es bis heute“. Vor allem, da es mittlerweile auch Studien und dokumentierte Infektionsketten gebe, die genau das bewiesen.

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Der Virologe weiter: „Ich dachte ja, man diskutiert das und findet dann praktische Lösungen. (…) Aber dann wurde die Infektiösität von Kindern so lange negiert und nichts gemacht, keine Entscheidung getroffen über so viele Monate, über den Sommer. Das war für mich schon sehr, sehr erstaunlich.“

5. Unser Ziel einer 50er-Inzidenz führt nicht zum langfristigen Erfolg

Immer wieder betonten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Länderchefs, das Ziel des neuerlichen Lockdowns sei ein Absenken der Sieben-Tage-Inzidenz auf 50. Doch das reiche nicht, sagt Drosten. Stattdessen müsse man darauf setzen, die Infektionszahlen konsequent auf Null zu senken. Aber geht das überhaupt? „Ich glaube schon, dass das möglich wäre, mit großen Anstrengungen. Natürlich würde das Virus immer wieder aufflackern, so wie das ja auch in China und Australien geschieht. Aber es wäre absolut erstrebenswert, jetzt auf die Null zumindest zu zielen.“

6. Wir stellen persönliche Meinungen über wissenschaftliche Evidenz

Wie man die Pandemie am besten bekämpft, darüber wird seit Anbeginn heftig gestritten. Der „Spiegel“ schreibt: „Einen größeren Schaden als ­Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck. Priorität müsse es haben, die Risikogruppen zu schützen, hörte man oft aus diesem Lager. Dabei ist längst klar, dass das bei hohen Fallzahlen nicht funktioniert.“

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Der Bonner Virologe Hendrik Streeck wirft der Bundesregierung vor, den Lockdown zu schnell veranlasst zu haben. 

Foto:

picture alliance

Namentlich will Drosten seine Kollegen zwar nicht kritisieren. Aber: Er versuche, „wie die meisten Wissenschaftler, mit Fakten zu überzeugen“, und nicht mit persönlicher Meinung, erklärt Drosten. Dabei gehe es ihm nicht darum, Kollegen im Nachhinein aufgrund von überholter Wissensstände zu kritisieren, denn im Laufe einer Pandemie sei es normal, dass der Erkenntnisstand sich ändere. „Was mich eher stört, sind Argumentationen ohne Begründung, ohne Inhalt, mit unfairen Analogieschlüssen. All diese Dinge, die beinahe in den Bereich der Verdrängung wissenschaftlicher Erkenntnisse fallen. Da entsteht eine ,false balance‘ – die Leute bekommen den Eindruck, es handle sich um Wissenschaft“, so Drosten.

7. Wir glauben, der Sommer bringt Besserung

Eine Entwicklung wie im vergangenen Jahr sieht Drosten für 2021 nicht: „Dass wir 2020 einen so entspannten Sommer hatten, hatte wahrscheinlich damit zu tun, dass unsere Fallzahlen im Frühjahr unter einer kritischen Schwelle geblieben sind. Das ist inzwischen aber nicht mehr so“, erklärt der 48-Jährige. Er fürchte, dass Deutschland eher auf eine Situation wie in Spanien zusteuere, wo im letzten Sommer „die Fallzahlen nach Beendigung des Lockdowns schnell wieder gestiegen sind, obwohl es sehr heiß war. Auch in Südafrika, wo derzeit Sommer ist, bewegen sich die Fallzahlen auf hohem Niveau“, so Drosten.

Denn: Sobald ein Großteil der Älteren und Menschen aus Risikogruppen geimpft seien, „wird ein riesiger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und vielleicht auch rechtlicher Druck entstehen, die Corona-Maßnahmen zu beenden“, glaubt Drosten. Dann würden sich „innerhalb kurzer Zeit noch viel mehr Leute infizieren, als wir uns das jetzt überhaupt vorstellen können.“

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Drostens Prognose: „Dann haben wir Fallzahlen nicht mehr von 20.000 oder 30.000, sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag.“ Zwar seien das dann eher jüngere Leute, bei denen Covid-19 meist milder verlaufe als bei Älteren oder Vorerkrankten. „Aber wenn sich ganz viele junge Menschen infizieren, dann sind die Intensivstationen trotzdem wieder voll, und es gibt trotzdem viele Tote. Nur dass es jüngere Menschen trifft.“

Die gute Nachricht: Ein solches Szenarien können wir in Deutschland verhindern, da wir im Moment noch einen gewissen Vorsprung haben, da das mutierte Virus noch nicht so schlimm grassiere wie etwa in Großbritannien. Das gelinge aber nur, „wenn wir die Zahlen jetzt ganz tief nach unten drücken“, so Drosten.

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