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Ein russischer Soldat patrouilliert im ukrainischen Mariupol.
  • Ein russischer Soldat patrouilliert im ukrainischen Mariupol.
  • Foto: picture alliance/dpa/AP | Uncredited

Aus der Haft an die Front: Putin lässt Mörder und Vergewaltiger zum Kämpfen frei

Für den Krieg gegen die Ukraine lässt der Kreml Häftlinge aus Straflagern rekrutieren. Dass unter ihnen sogar Mörder sind, entsetzt viele Russen. Erst recht, weil die ersten Ex-Häftlinge nach ihrer Rückkehr von der Front schon neue Verbrechen begangen haben.

Der Schmerz von Vera Pechtelewas Eltern ist für Außenstehende kaum vorstellbar. Vor knapp vier Jahren wurde ihre damals 23 Jahre alte Tochter von ihrem Ex-Partner brutal misshandelt, vergewaltigt und schließlich getötet. Für die Tat wurde der Mann aus der sibirischen Stadt Kemerowo zu 17 Jahren Straflager verurteilt – doch da sitzt er längst nicht mehr.

Anfang November nämlich wurde bekannt: Veras Mörder ist bereits vor Monaten begnadigt worden, damit er als Soldat in Russlands Krieg gegen die Ukraine ziehen kann. Besiegelt wurde seine Haftentlassung durch ein Dekret von Kremlchef Wladimir Putin höchstpersönlich.

Russland: Verurteilter Mörder und Vergewaltiger kämpft jetzt gegen die Ukraine

Die Schmerzensgeld-Zahlungen des Mörders an Veras Familie sollten für die Dauer seines Kampfeinsatzes ausgesetzt werden. „Wir waren schockiert. Wie kann so etwas sein?“ fragte Veras Mutter Oxana Pechtelewa damals in einem Interview des unabhängigen Portals „Bereg“. „Und ich bin nicht alleine. Glauben Sie mir, es gibt mindestens Hunderte solcher Mütter.“

Unterstützung erhielt sie von der bekannten Frauenrechtlerin Aljona Popowa: „Was ist zu tun?“, fragte sie auf ihrem Telegram-Kanal – und gab die Antwort selbst: „Nicht schweigen! Wenn wir schweigen, akzeptieren wir einfach, dass solche Mörder auf unseren Straßen herumlaufen.“ Das Verbrechen an Vera Pechtelewa, die vor ihrem Tod stundenlang vergeblich um Hilfe schrie, hatte 2020 Menschen im ganzen Land schockiert – und entsprechend groß ist nun die Aufregung über die Freilassung ihres Peinigers. Ein Einzelfall aber ist das nicht.

Seit fast zwei Jahren führt Russland einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Die Kämpfe sind auf beiden Seiten äußerst verlustreich, alleine in der russischen Armee sollen Nato-Schätzungen zufolge schon mehr als 300.000 Soldaten getötet oder verletzt worden sein. Durch eine Mobilisierungswelle hat Putin im vergangenen Jahr Hunderttausende Männer für die Front einziehen lassen, die Armee wirbt beständig um Freiwillige – doch offenbar reicht all das nicht.

Im Juni wurde deshalb auch die Anwerbung von verurteilten Straftätern durch die russische Armee legalisiert. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings schon längst bekannt, dass zumindest die Söldnergruppe Wagner bereits in großem Ausmaß Gefängnisinsassen rekrutiert hatte. Insbesondere in der bis zum Sommer 2023 andauernden Schlacht um die ostukrainische Stadt Bachmut sollen sie in Scharen als „Kanonenfutter“ gedient haben. Tausende starben.

Der Kreml rechtfertigt die umstrittene Praxis damit, dass die Männer für ihre Verbrechen „mit Blut auf dem Schlachtfeld büßen“. Wie viele Häftlinge auf diesem Weg die Gefängnisse bereits vorzeitig verlassen haben, darüber aber schweigt Moskau offiziell – wie über so vieles in diesem Krieg.

Die Nichtregierungsorganisation „Rus Sidjaschtschaja“ („Russland hinter Gittern“) sprach bereits vor knapp einem Jahr von rund 50.000 Rekruten, die in Gefängnissen angeworben worden seien. Von ihnen seien aber schon damals nur noch 10.000 im Einsatz gewesen, der Rest sei getötet, verletzt, verschollen oder in ukrainische Gefangenschaft geraten. Verlässliche aktuelle Zahlen gibt es nicht.

Front: Kriminelle kehren zurück – und verüben Verbrechen

Geschwiegen werden soll nach dem Willen des russischen Machtapparats offenbar auch darüber, wie viele der begnadigten Verbrecher nach ihrer Rückkehr aus dem Kampfgebiet in Russland erneut straffällig werden. Informationen des Portals „Meduza“ zufolge wurden staatliche Medien vom Kreml erst kürzlich dazu angehalten, über solche Fälle nicht zu berichten, damit die Russen „keine Angst bekommen“.

Doch geheim halten lässt sich die Thematik längst nicht mehr. Denn der Kreml-Militärromantik von den angeblich geläuterten Verbrechern steht oft eine ganz andere Realität gegenüber: Da ist etwa ein Mörder aus dem Gebiet Kirow, der von Wagner rekrutiert wurde und nach seiner Rückkehr aus der Ukraine in seinem Heimatdorf eine 85 Jahre alte Rentnerin erstach.

Oder ein ebenfalls begnadigter Mörder aus Kemerowo, der – gerade zurück von der Front – im Alkoholrausch seinen Freund umbrachte. Oder ein ehemaliger Kämpfer aus Nowosibirsk, der ein zehn Jahre altes Mädchen vergewaltigt haben soll. Ganz zu schweigen natürlich von Kriegsverbrechen, die diese Männer möglicherweise in der Ukraine begangen haben.

Politiker: Anstieg von Kriminalität in Russland denkbar

Wie gravierend die Folgen aus dem Krieg heimkehrender Verbrecher für die russische Gesellschaft langfristig sein werden, darüber kann laut Experten bislang nur gemutmaßt werden. Unklar sei das auch deshalb, weil noch niemand wissen könne, wie viele der begnadigten Häftlinge ihren Einsatz an der Front überhaupt überleben werden, sagte etwa die Soziologin Asmik Nowikowa kürzlich dem russischsprachigen Dienst des US-Senders „Radio Liberty“.

Doch selbst kremltreue Politiker halten einen Anstieg der Kriminalität vor diesem Hintergrund durchaus für denkbar. „Irgendwo wird jetzt möglicherweise die Kriminalitätsrate ansteigen“, sagte der Dumaabgeordnete Maxim Iwanow dem Portal „74.ru“.

Und das ist nicht die einzige Kriegsfolge, die Russlands Gesellschaft noch lange spüren dürfte. Stemmen muss sie auch enorme finanzielle Kosten – nicht nur für die von Putin angeordneten Kämpfe selbst, sondern auch für langfristige Ausgaben wie Veteranenrenten, Zahlungen an Hinterbliebene, Prothesen und andere gesundheitliche Leistungen.

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Alleine im kommenden Jahr sollen die Militärausgaben mehr als ein Drittel des knapp 37 Billionen Rubel (rund 370 Milliarden Euro) umfassenden russischen Staatshaushalts ausmachen – ein Rekordwert. (dpa)

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