Kerzen und Luftballons auf dem Joseph-Carlebach-Platz in Hamburg
  • Gedenken an die Reichspogromnacht und an die Opfer der Hamas: Hunderte von Menschen kamen am Donnerstagabend zum Joseph-Carlebach-Platz ins Grindelviertel.
  • Foto: Florian Quandt

Tränen und ganz viel Schmerz: Bewegende Gedenkveranstaltung im Grindelviertel

Noch nie war der Joseph-Carlebach-Platz so voll. Noch nie sind so viele Menschen zu der Gedenkveranstaltung im Grindelviertel (Rotherbaum) anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht am 9. November 1938 gekommen wie in diesem Jahr, in dem der terroristische Anschlag der Hamas auf Israel gerade einmal vier Wochen zurück liegt. Es war ein wichtiges Zeichen. Ein Zeichen für Menschlichkeit und für gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Stille setzt ein, als eine schwarz gekleidete Frau mit tieftraurigen Augen ans Mikrofon tritt. Lior Katz-Natanson stammt aus einem Kibbuz im Süden Israels. Am 7. Oktober wurde ihre Mutter von Hamas-Terroristen ermordet. Ihr Bruder, ihre Schwester und deren beide Töchter (2 und 4 Jahre alt) wurden als Geiseln verschleppt. Sie selbst entkam nur durch einen Zufall.

Überlebende der Hamas-Attacke: „Helfen Sie mir, meine Liebsten zurückzubringen!“

„Unser Leben hat sich in einen Albtraum verwandelt“, sagt Lior Katz-Natanson. Die Unsicherheit über den Verbleib ihrer Liebsten sei kaum auszuhalten. Zusammen mit ihrer Nichte Mika (24) ist Lior Katz-Natanson zum ersten Mal in ihrem Leben nach Deutschland gereist. In das Land, aus dem ihre Großeltern stammten, die den Holocaust überlebten.

„Helfen Sie mir, meine Liebsten zurück zu bringen“, bittet Lior Katz-Natanson mit stockender Stimme. Beide halten auf der Bühne Fotos der Familienangehörigen in die Höhe. Und die auf dem Platz versammelte Menge ruft ihnen im Chor zu „Bring them Home“. Bringt sie nach Hause.

Ihre Familie wurde von der Hamas verschleppt: Lior Katz-Natanson (38, r.) und ihre Nichte Mika (24) Florian Quandt
Lior Katz-Natanson (38, r.) und ihre Nichte Mika (24)
Ihre Familie wurde von der Hamas verschleppt: Lior Katz-Natanson (38, r.) und ihre Nichte Mika (24)

Es ist ein bewegender Abend. Mit vielen bewegenden Worten. Schon allein die Zusammensetzung der Redner auf der Bühne ist eine Botschaft. Nacheinander sprechen Vertreter verschiedener wichtiger Organe aus Politik, Kultur, Religion und Zivilgesellschaft. Aus sehr unterschiedlichen Perspektiven blicken sie sowohl auf die Vergangenheit also auch auf die Gegenwart. Doch in einem sind sie sich alle einig: Dass es in Deutschland keinen Platz mehr für Antisemitismus gibt. Dass man an der Seite der jüdischen Gemeinschaft steht und sie beschützt.

Daniel Sheffer von der Stiftung Bornplatzsynagoge: „Wir werden uns nicht verstecken!“

„Ein Pogrom war das, was am 9. November 1938 in Hamburg stattfand. Ein Pogrom war das, was am 7. Oktober 2023 in Israel stattfand“, erklärt Daniel Sheffer, Vorsitzender des Stiftungsrats Bornplatzsynagoge. Aktuell sei das Leben von Jüdinnen und Juden wieder bedroht. „Doch wir werden uns nicht verstecken!“, so Sheffer. Mit dem geplanten Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge werde jüdisches Leben wieder sichtbar und erlebbar. Für Sheffer ist diese Sichtbarkeit der Weg, um Verständnis zu schaffen und Vertrauen zu erwirken.

Bürgermeister Peter Tschentscher betont: „Das Grindelviertel war vor 1933 das Zentrum jüdischen Lebens in unserer Stadt. Hier standen die jüdische Schule und die größte Synagoge Norddeutschlands. Mit ihrem Wiederaufbau bekommt das jüdische Leben in Hamburg wieder einen festen Platz.“ Hamburg stehe für eine weltoffene, tolerante Gesellschaft und lasse keinen Millimeter Platz für Antisemitismus. Tschentscher: „Angesichts des Terrors der Hamas stehen wir fest an der Seite Israels.“

Zeichen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Neben Rabbiner Shlomo Bistriitzky sprachen Vertreter aus Politik, Kultur, Kirche oder klimaaktivistischen oder gewerkschaftlichen Organisationen. Florian Quandt
Die Redner bei der Gedenkveranstaltung
Zeichen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Neben Rabbiner Shlomo Bistriitzky sprachen Vertreter aus Politik, Kultur, Kirche oder klimaaktivistischen oder gewerkschaftlichen Organisationen.

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Philipp Stricharz erklärt: „Wir trauern um die am 7. Oktober Ermordeten und beten für die Verschleppten. Wir denken auch an die palästinensische Zivilbevölkerung, die nun unter den Folgen leidet.“ Wer die Taten der Hamas begrüße stehe auf einer Stufe mit den Barbaren, die 1938 für das Novemberpogrom sorgten. Hassparolen und Terrorrelativierungen dürften auf deutschen Straßen nicht geduldet werden.

Klima-Aktivistin Luisa Neubauer erinnert an ihren ermordeten Urgroßvater

Besonderen Applaus erhält auch die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer von „Fridays For Future“, die sich selbstkritisch mit ihrer eigenen Organisation auseinandersetzt. Neubauer hat ihre 91-jährige Großmutter mit ins Grindelviertel gebracht, deren Vater 1944 im KZ Stutthof als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus ermordet worden war. „Erinnern heißt aktiv zu werden“, so Neubauer. Das bedeute einzuschreiten, wenn anderen Unrecht geschehe. Laut zu werden und nicht wegzusehen. „Antisemitismus macht sich Platz, sobald wir nicht dagegenhalten.“

Kimaaktivistin Luisa Neubauer wird am Sonntag auf der Kundgebung an der Ludwig-Erhard-Straße sprechen. dpa/Georg Wendt
Luisa Neubauer
Kimaaktivistin Luisa Neubauer war in Begleitung ihrer 91jährigen Großmutter zu der Gedenkveranstaltung gekommen

Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftbunds (DGB) Tanja Chawla und Juliane Seifert, Staatsekretärin im Bundesinnenministerium, versprechen den Juden in Deutschland Unterstützung in Sachen Sicherheit. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie erinnert sich an ihre Kindheit, in der die Nazi-Verbrechen totgeschwiegen wurden. Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit erklärt ihre Solidarität mit Israel.

Bischöfin Kirsten Fehrs: „Antisemitismus ist gottlos“

Bischöfin Kirsten Fehrs betont: „Antisemitismus ist gottlos. Geben wir dem Hass keine Chance.“ Und der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel warnt vor einer gesellschaftlichen Spaltung: „Die Aufrufe an muslimische Verbände, sich von dem Terror der Hamas zu distanzieren, können für Gefühle der Resignation und Ausgrenzung sorgen. Jeder Mensch hat das Recht zu Schweigen.“ Wichtig sei der Zusammenhalt der demokratischen Kräfte der Gesellschaft. Nur so könnten Antisemitismus und Rassismus besiegt werden.

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Die Beiträge, viele von ihnen sehr persönlich und bewegend, sorgen dafür, dass bei nicht wenigen Zuhörern die Tränen fließen. Einer jüdischen Großmutter, die bei den Worten von Luisa Neubauer ins Schluchzen gerät und von ihrem Enkel gestützt werden muss, werden von den Umstehenden Taschentücher gereicht.

Das letzte Wort hat Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, der ein Gebet für die während des Nationalsozialismus ermordeten Juden wie auch für die Opfer des Hamas-Angriffs spricht.

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