Tobi Schlegl als Seenotretter: „Ohne unsere Hilfe wäre der Junge gestorben“
Fünf Jahre ist es her, dass Tobi Schlegl seinen Job als Fernsehmoderator an den Nagel hängte, um eine Ausbildung zum Notfallsanitäter zu machen. Eine Entscheidung, die sein Leben verändert hat. Vergangenes Jahr begab er sich dann auf die „Sea-Eye 4“, um Geflüchtete in Seenot aus dem Mittelmeer zu retten. Über diese Zeit hat der 44-Jährige jetzt ein Buch geschrieben. Die MOPO sprach mit Schlegl über seine dramatischen Erfahrungen an Bord des Seenotrettungskreuzers.
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Fünf Jahre ist es her, dass Tobi Schlegl seinen Job als Fernsehmoderator an den Nagel hängte, um eine Ausbildung zum Notfallsanitäter zu machen. Eine Entscheidung, die sein Leben verändert hat. Vergangenes Jahr begab er sich dann auf die „Sea-Eye 4“, um Geflüchtete in Seenot aus dem Mittelmeer zu retten. Über diese Zeit hat der 44-Jährige jetzt ein Buch geschrieben. Die MOPO sprach mit Schlegl über seine dramatischen Erfahrungen an Bord des Seenotrettungskreuzers.
MOPO: Vom Fernsehmoderator zum Notfallsanitäter ist es ein weiter Weg. Was hat Sie zu diesem Schritt bewegt?
Tobi Schlegl: Ich war gerne Moderator. Man kann auf Missstände aufmerksam machen, in dem man Menschen, die dabei waren, Fragen stellt und sie von ihren Erlebnissen berichten lässt. Aber irgendwann hat mir das nicht mehr gereicht. Ich wollte selbst etwas machen und konkret helfen.
Und warum Seenotrettung?
Ich finde es unerträglich, dass im Mittelmeer beinahe täglich Menschen ertrinken und die EU sieht dabei zu. Es kann nicht sein, dass die Hilfsorganisationen die Rettung ganz allein machen müssen und dabei auch noch behindert werden. Ich wollte diese Arbeit unterstützen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, diese Frauen, Männer und Kinder nicht ertrinken zu lassen.
Wollten Sie auch ein Zeichen setzen? Hatten Sie von Anfang an das Ziel, ein Buch zu schreiben?
Nein. Das war erstmal ein ganz persönliches Tagebuch. Ich habe mich an diesen 33 Tagen an Bord der „Sea-Eye 4“ jeden Abend gezwungen, mich hinzusetzen und das Erlebte aufzuschreiben. Meistens war ich viel zu müde und erschöpft und habe es daher nur stichwortartig gemacht. Erst nach dem Einsatz habe ich realisiert, wie viel wir als Crew erlebt haben und wie heftig das war.
Warum wollten Sie diese Erlebnisse teilen?
Die Nachrichten werden der Realität dessen, was dort im Mittelmeer geschieht, nicht gerecht. Da geht es nur um Zahlen und harte Fakten. Mein Gefühl ist, dass viele Menschen deshalb schon abgestumpft sind. Ich dachte, wenn ich meine persönlichen Erlebnisse beschreibe und auch das, was ich dabei gefühlt habe, dann ist das vielleicht der einzige Weg für Emotionen und Empathie zu sorgen.
Welche Situationen haben Sie am meisten bewegt?
Wenn sich ein dreijähriges unterkühltes Mädchen mit ganzer Kraft an dich krallt, dann brennt sich das für immer in dein Gedächtnis ein. Oder wenn ein achtjähriger Junge bewusstlos vor dir zusammenbricht und du nicht weißt: Was ist mit ihm? Er hatte eine niedrige Herzfrequenz, war unterkühlt und dehydriert. Ohne unsere Hilfe wäre er gestorben. Und dann war da diese Frau, die schilderte, wie sie im Lager in Libyen jeden Tag vergewaltigt wurde.
Woher wussten Sie, dass die Erzählungen der Hilfesuchenden stimmten?
Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden so weinen gesehen wie diese Frau. Bei anderen brauchte ich nur ihre Körper zu betrachten. Ich habe schreckliche Narben gesehen, z.B. von Schussverletzungen. Die Narben erzählen von der Gewalt des Krieges.
Was war die schlimmste Situation, die Sie bei Ihrem Einsatz erlebt haben?
An meinem 13. Tag an Bord gab es kurz vor dem Mittagessen Alarm. Zwei Holzboote wurden gesichtet. Aber: Die libysche Küstenwache war auch schon unterwegs. Sie bringt die Menschen zurück nach Libyen, wo sie in Lager oder Gefängnisse kommen. Dort drohen Hunger und Gewalt. Wir mussten also schneller sein und waren es auch. Aber als die Küstenwache auftauchte, sprangen vier Menschen aus dem Holzboot in Panik ins Wasser. Sie konnten nicht schwimmen und gingen immer wieder unter. Das war sehr gefährlich. Für sie, aber auch für die anderen. Denn wenn in so einer Situation eine Massenpanik ausbricht, kann das in einer Katastrophe enden. Dann hätte es Tote gegeben. Zum Glück ist es gut gegangen.
Haben Sie und die Crew auch mal einen sogenannten Pushback erlebt?
Ja. Einmal haben wir ein Notsignal empfangen von einem einige Seemeilen entfernten Boot. Wir sind mit voller Power hingefahren. Doch wir waren zu spät. Es waren nur noch Kleidungsstücke an Bord. Die libysche Küstenwache war schneller. Das tat weh.
Gab es auch schöne Momente?
Als wir nach Tagen der Ablehnung und des Wartens die Erlaubnis erhielten, den Hafen von Pozzallo auf Sizilien anzulaufen, brach unter unseren 400 Gästen an Bord Jubel aus. Eine spontane Party wurde gefeiert. Die Syrer machten Musik an, ich wurde auf Schultern gehoben. Es war eine ganz besondere Stimmung aus Freude, Dankbarkeit und Vertrauen.
Es gibt Stimmen, die der humanitären Seenotrettung vorwerfen, sie würden den Exodus nur befördern. Die Menschen wüssten ja, dass sie gerettet werden.
Das ist einfach falsch. Es gibt keine Studie, die das belegt. Hunger, Folter, Krieg und absolute Perspektivlosigkeit – das sind die Motive, warum die Menschen ihre Heimatländer verlassen. Da ist nur Verzweiflung. Ich habe Leute sagen hören: „Ich wusste, dass ich sterben kann, wenn ich in dieses Boot steige. Aber sonst wäre ich auch gestorben.“ Diese Menschen fahren raus, egal ob ein Rettungsboot in der Nähe ist oder nicht.
Bis heute gibt es keine staatlich organisierte Seenotrettung im Mittelmeer. Europa setzt auf die abschreckende Wirkung der Unglücke. Was muss passieren?
Wenn jemand in Lebensgefahr ist, muss ihm oder ihr geholfen werden. Da gibt es keine zwei Meinungen. Als Notfallsanitäter frage ich ein Unfallopfer ja auch nicht zuerst, ob er zu schnell gefahren ist, bevor ich ihn rette. Es ist gut, dass die Ampel-Koalition sich des Themas annehmen will- in welcher Form auch immer. Aus meiner Sicht brauchen wir eine staatliche Seenotrettung, damit die Hilfsorganisationen nicht weiter allein gelassen werden und gehindert werden, sichere Häfen anzulaufen. Zudem müssen die völkerrechtswidrigen Pushbacks aufhören. Libyen ist kein sicherer Hafen, sondern der Vorhof zur Hölle.
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Aus meiner Sicht brauchen wir eine staatliche Seenotrettung, damit die Hilfsorganisationen nicht weiter allein gelassen werden und gehindert werden, sichere Häfen anzulaufen. Zudem müssen die völkerrechtswidrigen Pushbacks aufhören. Libyen ist kein sicherer Hafen, sondern der Vorhof zur Hölle.
Welche Bedeutung hatte der Einsatz auf der „Sea-Eye 4“ für Ihr Leben?
Solche Erlebnisse verändern einen. Man lernt sehr viel Demut vor dem Leben. Die Rückkehr in mein normales Leben war nicht einfach. Zu sehen, über was für Kleinigkeiten sich die Menschen hier bei uns aufregen. Man braucht ein paar Wochen, um wieder anzukommen. Seenotrettung wird immer ein Teil meines Lebens sein. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass ich noch einmal aufs Schiff gehe. Und ich will mich weiter für das Thema einsetzen. Damit die Situation, so wie sie ist, nicht einfach stillschweigend akzeptiert wird.