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Die Vergabe der WM 2022 an Katar kam wohl für alle überraschend, nur für die Fifa-Funktionäre nicht.
  • Die Vergabe der WM 2022 an Katar kam wohl für alle überraschend, nur für die Fifa-Funktionäre nicht.
  • Foto: WITTERS

WM gucken oder nicht? Noch verspüre ich als Zuschauer Lust am Fußball

Ob in der Familie, im Freundeskreis oder unter Kollegen: Überall wird darüber diskutiert, ob man sich die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar anschaut – oder den Fernseher lieber auslässt. In der MOPO schreiben zwei Redakteure, wie sie es halten. Hier der Standpunkt von unserem Gastkommentator Christoph Lütgert:

Eins vorab: Dass die Fußball-WM in Katar gespielt wird, finde ich wie zigtausend andere verrückt und bescheuert, vielleicht sogar obszön. Fußball in der Vorweihnachtszeit bei Stollen und Marzipan vor dem Fernseher, Übertragungen aus einem megareichen Wüstenstaat, in dem für den Bau der Protz-Stadien ungezählte Sklavenarbeiter aus den ärmsten Ländern wie Nepal ums Leben kamen; ein Land, in dem Meinungsfreiheit und Menschenrechte nichts oder sehr wenig gelten, in dem Frauen unterdrückt und Schwule weggesperrt werden. Die Negativ-Liste könnte ich beliebig erweitern – alles schon gehört und gelesen.

WM in Katar: Ich werde gucken

Ich weiß von vielen in meinem Freundeskreis, für die es selbstverständlich ist, dass sie sich kein Spiel dieser WM im Fernsehen anschauen werden. Und sie erwarten das auch von mir. Das gehört gleichsam zum Comment politisch aufgeklärter Gutmenschen. Ihre Parole: Boykott!!! Vor denen oute ich mich jetzt: Ich werde gucken, werde mir die Spiele, die mich interessieren, zu Hause vor dem heimischen Bildschirm ansehen.

Christoph Lütgert war 17 Jahre lang Chefreporter Fernsehen beim NDR und wurde mehrfach ausgezeichnet.
Christoph Lütgert war 17 Jahre lang Chefreporter Fernsehen beim NDR und wurde mehrfach ausgezeichnet.

Zum einen, das muss ich ganz offen eingestehen, verwirren mich die widersprüchlichen Berichte aus Katar. Unstreitig ist: Die politische und soziale Lage dort, die Missachtung der Menschenrechte und die mangelnde Toleranz gegenüber Minderheiten – das alles ist bedrückend. Aber was ist dran an den Behauptungen, dass sich in diesem kleinen Wüstenstaat schon deutlich mehr zum Besseren geändert hat als in den anderen Ländern der Region? Und wenn wir unsere Kriterien anlegen, dann dürften wir künftig nur noch Sportübertragungen aus zehn oder allenfalls 20 Ländern dieser Erde akzeptieren. So schlimm ist die globale Realität.

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Dann das Argument, dass Katar, ein Land ohne jegliche Fußball-Tradition, die WM nur mit Millionen und Abermillionen Korruptions-Dollars bekommen habe. Anders sei diese verrückte Vergabe gar nicht zu erklären. Wie aber lief das vor der berühmten Sommer-Märchen-WM 2006 in Deutschland, an die wir uns voller Glückseligkeit erinnern? So ein bisschen oder bisschen mehr soll doch da auch geschmiert worden sein, oder? Und trotzdem waren wir alle oder ganz viele von uns vor Begeisterung aus dem Häuschen.

Boykott der WM: Was verändert das?

Frage an die heldenhaften Boykotteure, die jetzt wochenlang verzichtsbereit vor schwarzen Mattscheiben hocken wollen: Was verändern sie mit ihrer Askese? Wen kümmert es, ob sie zu Hause Fußball gucken oder irgendeine Rosamunde-Pilcher-Schmonzette? Weil korrupte Fifa-Funktionäre zusammen mit stinkreichen und mental rückständigen Scheichs eine grundfalsche Entscheidung für Katar als WM-Austragungsort getroffen haben, soll ich mich da auch noch selbst bestrafen? Wen außer meine politisch korrekten Freunde könnte ich damit beeindrucken?

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Und müssten wir, wollen wir moralisch völlig sauber bleiben, dann nicht auch im kältesten Winter unsere Heizungen abdrehen, wenn demnächst hoffentlich Gas aus dem Wüstenstaat Katar die Brenner befeuert und unsere Energie-Krise mildert?

Also, ich werde gucken und mich nicht schämen. Aber ich gebe zu: Ich hatte bestimmt schon mal mehr Spaß, konnte frühere Welt- und Europameisterschaften unbefangener genießen. Und es ist schon eine Enttäuschung, dass Kapitän Manuel Neuer sich nicht traut oder sich nicht trauen darf, in Katar mit der Regenbogen-Armbinde als Bekenntnis gegen Homophobie aufzulaufen.

Sport wird durchkommerzialisiert

Noch verspüre ich als Zuschauer Lust am Fußball. Die aber wird ohnehin schon seit Längerem immer weniger – schon lange vor Katar. Wenn der Sport dermaßen durchkommerzialisiert wird, dass am Ende vielleicht doch Geld Tore schießt, wenn der Marktwert eines einzelnen Spielers schon an die Milliarde ranreicht, wenn Super-Reiche ganze Klubs kaufen und sie so verstärken, dass Fairplay auf der Strecke bleibt, dann könnte auch ich irgendwann aussteigen.

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Aber – wie gesagt oder geschrieben: Noch gucke ich. Und zur Beruhigung meines Gewissens weiß ich einen sauberen Ablass-Handel: Ich spende einen ordentlichen Betrag an bewährte Wohltätigkeits-Organisationen wie Unicef oder „Brot für die Welt“. Die kümmern sich in den ärmsten Ländern auch um die Menschen, die Väter oder Söhne auf den Baustellen im megareichen Katar verloren haben. Und mit so einer Spende bewirke ich mehr als mit einem Fernsehboykott. Da bin ich mir ganz sicher.

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