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Ein Foto aus dem Archiv: Julian Reichelt als Chef der „Bild“.
  • Ein Foto aus dem Archiv: Julian Reichelt als Chef der „Bild“.
  • Foto: picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Fall Reichelt: Solange der Chef „performt“, sind Frauen Freiwild

Axel Springer feuert „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Die Nachricht schlug in Medienkreisen ein wie eine Bombe. Grund für die Entlassung: Reichelts Fehlverhalten in Bezug auf junge Kolleginnen. Die Vorwürfe gegen ihn sind massiv und verstörend. Mindestens genauso verstörend ist aber, wie anfangs sein Arbeitgeber und später auch seine Gefolgsleute damit umgehen.

Hier einmal die Fakten: Der Chef von Deutschlands größter Zeitung wird von mehreren Frauen beschuldigt, im zwischenmenschlichen Verhältnis Grenzen überschritten zu haben. In den Berichten ist von intimen Beziehungen des Chefs mit Berufseinsteigerinnen die Rede. Von rasantem Job-Aufstieg nach einvernehmlichem Sex. Von Unter-Druck-Setzen, Einschüchtern, Mobbing. Von einer gefälschten Scheidungsurkunde, mit der eine Frau zum Sex überredet werden sollte. Von Drogenkonsum am Arbeitsplatz.

Springers Botschaft: Solange der Chef „performt“, sind Frauen Freiwild

Sein Arbeitgeber Axel Springer setzt damals, als die Vorwürfe im Frühjahr öffentlich werden, zwar eine Aufklärungskommission ein. Aber nach nicht einmal zwei Wochen ist Reichelt wieder im Amt. Er habe Fehler eingeräumt, steht später in einer Pressemeldung (welche Fehler, ist unklar) – aber schließlich habe Reichelt die „Bild“ strategisch, strukturell und journalistisch „enorm“ weitergebracht, daher sei eine Entlassung „nicht gerechtfertigt“, heißt es Ende März.

Bedeutet: Selbst wenn es Fehlverhalten gab (dessen Dimension Springer unter Verschluss hält) – solange auf der anderen Seite der Rubel rollt, darf Reichelt offenbar weiter Praktikantinnen und Volontärinnen verführen. Was für ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen und anderer Opfer. Die Botschaft: Solange der Chef „performt“, sind Frauen Freiwild.

Was sich nach dem Compliance-Verfahren bei „Bild“ ändert? Nichts!

Auch was danach bei „Bild“ passiert, ist verstörend: Obwohl es die Vorwürfe des massiven Fehlverhaltens gegen Reichelt gibt, die dieser sogar teils einräumt, ändert sich? Nichts! Reichelt bleibt Chef (wenn auch mit neuer Co-Chefin an seiner Seite), Reichelt trennt Berufliches und Privates weiter nicht, Reichelt lügt – das gibt Springer am Montagabend in einer weiteren Pressemeldung zu.


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Hätten nicht weiter Investigativ-Reporter:innen den Vorwürfen hinterher recherchiert, der ganze Saustall wäre wohl folgenlos geblieben. Doch Journalist:innen der „New York Times“ und der Mediengruppe Ippen lassen nicht locker – und bringen Reichelt damit zu Fall.

Kein unternehmerischer Erfolg rechtfertigt, dass sich ein Chef übergriffig verhält

Interessant: Warum Reichelt gehen muss, darüber verliert in seinem direkten Umfeld anschließend keiner ein Wort. Vize-Chef Paul Ronzheimer etwa hält bei „Bild Live“ am Montag den Tränen nah eine Rede, dass es ein „schwerer Abend“ für ihn sei, da Julian Reichelt – ein Mann voller „journalistischer Glanzleistungen“ – nicht mehr sein Chef sei. „Julian, wir denken an dich“, presst Ronzheimer raus – als kämpfe Reichelt gegen eine schwere Krankheit oder läge im Sterben. Auf Twitter ergänzt er noch, dass Reichelt „immer einer der besten Journalisten bleiben“ wird. Viele Menschen hätten ihm „so so viel zu verdanken. Und auch das sollte nicht untergehen!“, schreibt Ronzheimer.

Ein Irrtum. „Das“ kann in diesem Fall gut und gerne „untergehen“. Ob er ein guter Journalist war und was jemand Julian Reichelt womöglich zu verdanken hat, ist in diesem Kontext nicht von Bedeutung. Denn es ändert nichts daran, dass Reichelt sich Frauen gegenüber falsch verhalten hat. Doch statt dieses Fehlverhalten als Grund für seine Entlassung anzuerkennen, wird von seinen Gefolgsleuten darüber der Mantel des Schweigens gebreitet. So, als seien die Opfer und ihre Vorwürfe nicht existent.

Das, was Reichelt vorgeworfen wurde und wird, ist dadurch nicht weniger „schlimm“, weil er andererseits vielleicht ein guter Journalist war. Nein. Nichts, keine journalistischen Erfolge, keine angeblich clevere Strategie, kein finanzieller Gewinn, rechtfertigt oder entschuldigt oder legitimiert, dass ein Chef sich übergriffig seinen Angestellten gegenüber verhalten darf. Frauen sind eben nicht Freiwild, solange der Chef „performt“. Nicht bei „Bild“ und auch nicht anderswo.

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