Star-Fußball-Autor: Darum sollten sich alle auf diese EM freuen!
Vorweg die wichtigste Nachricht aus meinem Wohnzimmer: Ich freue mich auf diese Euro. Das ist bemerkenswert, weil die WM in Katar diese Vorfreude zwischenzeitlich gekillt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich mich seinerzeit nicht auf ein großes Fußball-Turnier gefreut. Das war ein ganz deprimierendes, nie gekanntes Gefühl, und das Abschneiden der deutschen Elf mitsamt Mund-zuhalten-Quatsch und Armbinden-Posse konnte meine seelische Verfassung nicht wirklich lindern.
Nun aber eine Europameisterschaft in Deutschland. Nicht wieder irgendeine scheinbar drogenumnebelte Idee mit Turnierspielen in verschiedenen Ländern, sondern einfach nur ein Turnier in einem fußballbegeisterten Land. Wie früher. Das alleine ist Grund genug, sich jetzt erst einmal auf vier pickepackevolle Fußball-Wochen zu freuen, solange es irgend geht.
Die letzte EM war eine triste Angelegenheit
Die letzte EM war, ähnlich wie die WM in Katar, auch eine triste Angelegenheit, bei der sehr wenig stimmte. Das lag aber ausnahmsweise mal nicht ausschließlich an der UEFA, sondern an der Pandemie, wobei UEFA und Pandemie nun manchmal auch kein so großer Unterschied sind. Das Turnier sollte völkerverständigend rüberkommen und in ganz Europa stattfinden. So die Theorie. Am Ende durfte England sechsmal im Wembley-Stadion antreten und hatte quasi eine Heim-EM. Deutschland spielte drei Gruppenspiele in München und schied dann in London gegen England aus. Europameister ist ja übrigens Italien. Hatte ich auch irgendwie verdrängt.
Ich musste das alles nachschlagen, weil ich an diese vergangene EM nahezu keine Erinnerungen mehr hatte. Das lag am Turniermodus und an Corona. Wir sahen im Fernsehen beim ersten Hinsehen vor allem Masken, Abstände und fast leere Stadien. Diesmal ist das anders. Die Stadien werden voll sein, und zwar alle und immer. Und schon wird allerorten gefragt, ob das gesamte Drumherum nicht im Grunde ideal für die Anbahnung eines neuen Sommermärchens wäre.
Das könnte Sie auch interessieren: Fußball-EM in Hamburg: Wo es ab Freitag ein riesiges Public Viewing gibt
Das ist inzwischen so ein deutsches Ding: „Hey, man könnte doch mal wieder ein Sommermärchen …?“ Nein. Das ist Unfug. Sommermärchen lassen sich nicht auf Kommando abrufen oder beliebig reproduzieren. Dafür war unser wirkliches Sommermärchen 2006 zu besonders und sollte es auch bleiben. Ab Tag 1 war damals das Wetter schön, der Fußball meist ansehnlich und das deutsche Team, angeführt von Jürgen Klinsmann, spielte sich sehenswert durch ein buntes Turnier, bis fast ganz zum Schluss. Schon der Versuch vier Jahre später, bei der WM 2010 in Südafrika einfach so zu tun, als sei wieder Sommermärchen, scheiterte kläglich.
Aber toll werden kann es dennoch, wenn es heute losgeht. Ein paar Grad mehr wären schön, und ein guter Auftakt für die deutsche Mannschaft in München gegen Schottland würde allem sehr guttun. Dann kann es ein tolles Turnier werden. Muss nicht, aber kann.
Dieses Mal scheint Manuel Neuer das Schlüsselproblem zu sein
Die sportlichen Aussichten der DFB-Elf sind unübersichtlich. Vor einem Jahr wurde der deutsche Fußball noch pauschal zum Deppen erklärt und es wurde uns von allen Seiten erklärt, dass unsere Nationalmannschaft für alles zu schlecht ist und das auf Jahre hinaus. Julian Nagelsmann hat da einen Stimmungs-Turnaround hinbekommen, und keiner weiß wie. Der Kader unserer Mannschaft wirkt ausgewogen, und es gibt nur Kleinigkeiten zu diskutieren. Das aber selbstverständlich erbittert, überhitzt und bis aufs Blut, so wie immer.
Vor jedem Turnier wird prophylaktisch erklärt, weshalb es sowieso nichts werden kann mit einem guten Turnier für Deutschland. Mal ist es der ungeliebte Bundestrainer gewesen, mal Michael Ballacks malade Wade, und 2014 wussten eigentlich alle Fachleute vorher, dass sowieso nach der Vorrunde Schluss sein würde, weil Jogi Löw keinen richtigen Stürmer nominiert hatte. Auch ohne Stürmer lief es dann ganz gut, 2014. Anscheinend brauchen wir vor jedem Turnier so eine Art Schlüsselproblem, damit wir lustvoll-skeptisch und nörgelnd mitfiebern können. Diesmal ist es Manuel Neuer, der plötzlich für alles zu schlecht ist, weil er ein Formtief hat, von dem niemand weiß, wie tief es ist und wann es vorbei sein könnte. Ich weiß das auch nicht.
Das könnte Sie auch interessieren: „Das könnte ein Vorteil sein“: So schätzt Thomas Helmer die deutschen EM-Chancen ein
Ich weiß nur, dass wir 1974 vor der WM eine identische Situation hatten, weil Sepp Maier plötzlich zu schlecht war und bitte schön durch Nigbur oder Kleff ersetzt werden müsste. Wurde er dann nicht. Er spielte, und um alle zu ärgern, spielte er überragend und wuchs zu einem der Garanten für den WM-Sieg. Es geht freilich auch andersrum. Oliver Kahn wurde 2002 zum Über-Torwart hochgeschrieben, jedes Kahn’sche Angeschossenwerden aus kurzer Distanz wurde landesweit hymnisch zu einer Jahrhundertparade hochgejazzt. Am Ende war wohl auch Kahn selbst davon so berauscht, dass er uns dann mehr oder weniger im Alleingang das Finale gegen Brasilien versemmelte. So kann es dann eben auch gehen.
Die Lehre daraus ist: Warten wir mal ab und lassen uns erst einmal genüsslich in dieses Turnier fallen. Es kann ganz toll werden. Was schiefgehen könnte, weiß jetzt gerade niemand, auch wenn viele es von sich glauben. Hinterher wissen wir es dann alle. Und diese Zeitspanne sollten wir genießen: Die Wochen, die vergehen von der üblichen vorsorglichen Skepsis bis zum Hinterher. Lasst uns an etwas glauben und wenn es Manuel Neuer ist. Wenn wir an ein gutes Turnier glauben, macht es zumindest zu Beginn ungleich mehr Spaß, als wenn wir jetzt schon sicher sind, dass wieder irgendwas Doofes passiert. Nur Mut! Es geht!
Nur das Wetter sollte sich jetzt langsam mal etwas mehr Mühe geben.
Arnd Zeigler begleitet und kommentiert die EM zusammen mit „11 Freunde“-Chefredakteur Philipp Köster in dem täglichen Podcast „Zeigler & Köster“