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  • Kunst an der Wand – diese Fische schwimmen im Reiherstiegviertel.
  • Foto: Geffers

Hier gibt es kein normal: In 10 Schritten über Hamburgs „Insel der Freiheit“

Ghetto, Problemstadtteil oder neues Szeneviertel – über Wilhelmsburg wurde schon viel geschrieben. Und tatsächlich dürfte Wilhelmsburg der vielleicht spannendste Stadtteil Hamburgs sein. Doch wie ist es da wirklich? Wir nehmen Sie mit – in zehn Schritten über die Insel. Teil 2 unserer Stadtteil-Serie.

1. Mittenrein ins Getümmel: Wilhelmsburg ist groß – am besten entdeckt man es per Fahrrad (aber Vorsicht: Dass man auf Radler Rücksicht nehmen muss, hat hier noch nicht jeden erreicht). Wer von Norden über Elbtunnel oder Elbbrücke auf die Insel kommt, fährt am besten über den Vogelhüttendeich direkt zum Stübenplatz – der beste Start für einen Rundgang durch Wilhelmsburg.

Wilhelmsburg ist Hamburgs vielleicht spannendster Stadtteil

Hamburg ist quasi in Sichtweite und trotzdem fern. Bulgarische Frauen sitzen auf den Stufen abgeranzter Altbauten, vor den unzähligen Kulturvereinen und schrägen Bars plaudern Türken, Albaner, Polen, Araber, Afrikaner, beim Portugiesen wird das erste Bier bestellt, Grünen-Wähler sitzen vorm Öko-Hipster-Café, von den WG-Balkonen flattern Soli-Transparente, Frauen tragen Nikab oder Minirock und meist irgendwas dazwischen.

Wilhelmsburg Reiherstiegviertel

Frisch renoviert: eine der vielen Gründerzeitfassaden im Reiherstiegviertel

Foto:

Geffers

Über Jahrzehnte kam eine Einwanderergruppe nach der anderen in diesen Stadtteil, wegen der Industrie und der billigen Mieten. Dazu gesellen sich zuletzt immer mehr Linke, Ökos, Künstler, Hipster und junge Fahrrad-Familien, die aus Ottensen und der Schanze flüchten. Das hat den großen Vorteil, dass die Leute so grundverschieden sind, dass es „normal“ in Wilhelmsburg schlicht nicht gibt. Und so fallen hier selbst die größten Freaks kaum auf. Jeder kann sein, wie er will.

Veringkanal Wilhelmsburg

Industrieromantik: Immer am Wasser entlang führt der Weg am Wilhelmsburger Veringkanal.

Foto:

Geffers

2. Erstmal zum Dealer: Nachdem wir eine Runde rund um den Stübenplatz gedreht haben, geht es entlang des Veringkanals vorbei am Künstlerhaus, dem „Turtur“ (im Winter Club, im Sommer Pizzeria) und schattigen Wiesen zu „Eisdealer“ von Dieter Kalvelage. Der hat, etwas versteckt an der Weimarer Straße, die ungewöhnlichsten Sorten im Angebot. Stachelbeereis zum Beispiel oder veganes Porridge-Eis. Wir nehmen eine Kugel Salzkaramell. Beste Wegzehrung, hält bis zum Energiebunker an der Neuhöfer Straße.

Eisdealer Wilhelmsburg

„Eisdealer“ Dieter Kalvelage entwickelt ausgefallene Sorten wie Stachelbeereis.

Foto:

Geffers

3. Der Energie-Koloss: Der Weltkriegsbunker sollte nach dem Krieg eigentlich gesprengt werden – aber das hat nicht geklappt. Nun versorgt er immer mehr Haushalte mit Öko-Energie. Wer keine Zeit für eine Führung hat, fährt direkt aufs Dach. Dort gibt es das „Café vju“ und eine 360 Grad-Wahnsinnsterrasse. Hier sehen wir, was Wilhelmsburg ausmacht: viel Wasser, viel Grün, viel Industrie, viele Sozialbauten, zwei Altbauviertel, Hochhäuser und große Einzelhaus-Siedlungen. Alles, was man für eine mittelgroße Stadt mit 50.000 Einwohnern braucht.

Der ehemalige Flakbunker im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg.

Der ehemalige Flakbunker im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg liefert jetzt Energie für die Anwohner. 

Foto:

picture alliance/dpa

Hamburg-Wilhelmsburg: Der Inselpark ist ein großer Spielplatz für jung und alt

4. Hamburgs bester Park: Ab geht’s Richtung Süden in den Inselpark, den die Insulaner der Internationalen Gartenausstellung verdanken und der alles hat, was das Großstadt-Herz begehrt: vier Spielplätze, Skatebahnen, Kletterpark, Kletterhalle, Teiche, Kanäle usw. Stärkung gibt’s in der „Willi Villa“ – und ein Bötchen auch, denn eine kleine Kanu-Tour ist jetzt ein Muss. Ambitionierte können auch zu stundenlangen Entdeckertouren über Wilhelmsburgs Wasserwelt aufbrechen.

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5. Lust auf ein Eigenheim? Am nördlichen Parkausgang bewundern wir kurz die bunte Fassade der Bau- und Umweltbehörden, queren die Bahnlinie und das nüchterne Einkaufszentrum „Luna Center“ (zum Shopping bitte nicht auf die Insel kommen, lohnt nicht, außer für einen Besuch im „Quittje“ an der Veringstraße). Wer viel Energie hat und eh damit liebäugelt, ein stadtnahes Häuschen zu erwerben, biegt jetzt nach Süden ab und radelt östlich der Otto-Brenner-Straße durch Kirchdorf (alle anderen springen zu Punkt 7). Hier gibt’s kleine Häuschen mit großen Gärten, leider sind die Schnäppchen-Zeiten vorbei, um 70 Prozent sind die Preise seit 2015 gestiegen. Und das meiste geht unter der Hand weg.

Ein Baum im Moor

Riesige alte Pappeln säumen die Wanderwege im Naturschutzgebiet Heuckenlock an der Süderelbe.

Foto:

Schäfer

6. Raus aufs Land: Jetzt machen wir es wie die Hamburger Politik, lassen Kirchdorf-Süd links liegen und radeln an Pferdeweiden vorbei zum Naturschutzgebiet Heuckenlock. Von da geht’s weiter den Deich entlang Richtung Osten. Die Stadt ist hier ganz weit weg. Wer mag, klettert einmal auf den Leuchtturm an der Bunthäuser Spitze.

Anleger Wilhelmsburg

Der Schwan am Biergarten „Zum Anleger“ ist gerade frei und wartet auf Tretbootfahrer.

Foto:

Geffers

7. Rein ins Bahnhofsviertel: So, genug Natur, wir sausen zurück ins zweite Altbauviertel der Insel. Während das Reiherstiegviertel im Westen viele an die Schanze vor 30 Jahren erinnert, ist das Bahnhofsviertel fest in Wanderabeiter-Hand. Im Morgengrauen stehen die Männer an Straßenecken, um auf Baustellen und in Hafenbetriebe gekarrt zu werden, wo sie für wenig Geld unseren Wohlstand mehren. Nachmittags bevölkern sie die Straßencafés, und nicht wenige belästigen die wenigen vorbeigehenden Frauen mit ekligem Geschnalze.

Tour durch Wilhelmsburg: Erstmal eine Rast am Wasser

8. Endlich Erholung: Praktisch in Wilhelmsburg: Nach wenigen hundert Metern ist man immer am Wasser. Und so geht’s vom Bahnhofsviertel über Schönenfelder Straße und Auf der Höhe an der Dove Elbe entlang, bis wir am Ernst-August-Kanal auf der Terrasse des Biergartens „Zum Anleger“ sitzen und uns wie im Urlaub fühlen. Wir könnten ein Kanu mieten und bis in den Inselpark zu „Willi Villa“ rudern, hier was Essen – oder zurück ins Reiherstiegviertel, wo die Auswahl groß ist.

Aomame Japanisch Ramenbar Hamburg

Ganz schön japanisch: Im „Aomame“ gibt es Ramen. Aber nicht nur.

Foto:

Geffers

9. Lecker Essen: Also radeln wir vorbei am Autoschieber-Strich zurück ins Reiherstiegviertel. An der Veringstraße gibt’s Burger, Sushi, großartige Pizza; guten und günstigen Fisch im „O Atlantico“ oder Ramen im „Aomame“.

Besucher feiern beim MS Dockville-Festival (Archivbild)

Fiel in 2020 leider aus: Besucher beim MS Dockville-Festival, das alljährlich Tausende auf die Insel lockt (Archivbild).

Foto:

imago/Hoch Zwei Stock/Angerer

10. Bier und Baklava: Noch nicht genug von Wilhelmsburg? Die „Kismet“-Bäckerei (Fährstr. 22) packt einem noch bis 22 Uhr köstliche Baklava für Zuhause ein. Die „Bunthaus-Brauerei“ schenkt donnerstags und freitags am Wasserwerk aus (18-24 Uhr), an der „Wildwuchs-Brauerei“ (Jaffestr. 8) gibt’s samstags und sonntags ab 13 Uhr vor Ort gebrautes Pils, Ale, Weizen und Craftbeer. Und wenn Corona vorbei ist, locken Konzerte, Festivals und Techno-Partys wieder Tausende auf die Insel der Freiheit.

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