Bundesweites Vorbild: So arbeiten die Lebensretter aus Billstedt
Armut macht krank. In sozial schwachen Stadtteilen wie Billstedt oder Horn sterben die Menschen im Durchschnitt zehn Jahre früher als in wohlhabenden Stadtteilen wie Blankenese oder Harvestehude. Der Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße hat es geschafft, diese Entwicklung zu stoppen. Nun soll das Projekt zum Modell für ganz Deutschland werden. Die MOPO war vor Ort.
Wer den Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße betritt, wird von einem kleinen Superhelden begrüßt. Der auf Kinder-Höhe angebrachte Aufkleber zeigt einen süßen Jungen mit Umhang, der per Sprechblase eine wichtige Botschaft von sich gibt: „Ich esse nur eine Süßigkeit pro Tag!“
Armut macht krank. In sozial schwachen Stadtteilen wie Billstedt oder Horn sterben die Menschen im Durchschnitt zehn Jahre früher als in wohlhabenden Stadtteilen wie Blankenese oder Harvestehude. Der Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße hat es geschafft, diese Entwicklung zu stoppen. Nun soll das Projekt zum Modell für ganz Deutschland werden. Die MOPO war vor Ort.
Wer den Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße betritt, wird von einem kleinen Superhelden begrüßt. Der auf Kinder-Höhe angebrachte Aufkleber zeigt einen süßen Jungen mit Umhang, der per Sprechblase eine wichtige Botschaft von sich gibt: „Ich esse nur eine Süßigkeit pro Tag!“
Hamburg: Gesundheitskiosk in Billstedt hilft Menschen in Not
Damit bringt der kleine Superheld eine der zentralen Arbeitsschwerpunkte des Gesundheitskiosks auf den Punkt: Die Einrichtung berät die Einwohner des Stadtteils mit den meisten Hartz-IV-Empfängern in Hamburg in Sachen gesunde Ernährung. Denn wer zu viel Zucker, zu viel Salz, schlechte Fette und keine Vitamine zu sich nimmt, hat ein höheres Risiko, lebensverkürzende Krankheiten zu bekommen.
Es ist Donnerstag, 10.30 Uhr, als Sieglinde Brandt den Gesundheitskiosk betritt. Die 58-Jährige hat vor ein paar Monaten noch 105 Kilo gewogen. Jetzt sind es zehn Kilo weniger. Aber Brandt hat Diabetes. Es müssen noch mehr Kilos runter. „Wie geht es Ihnen heute?“, wird Brandt von Beraterin Cagla Kurtcu begrüßt.
Gesundheitskiosk in Billstedt: Hier finden arme Menschen ein Ohr für ihre Sorgen
„Ach, es ist so viel los bei der Arbeit“, stöhnt Sieglinde Brandt, die als Pflegeassistentin im Krankenhaus arbeitet, wo angesichts von Corona gerade akuter Personalmangel herrscht. Kurtcu zeigt Verständnis und hakt nach: „Wir haben uns ja letztes Mal das Ziel gesetzt, 500 Gramm abzunehmen“, erinnert die Beraterin ihre Kundin. Brandt ist bekümmert: „Ich habe es auch versucht, aber bei der Hektik im Beruf ist das nicht einfach.“
Kurtcu hört zu. Sie überlegt, wie Brandt ihren Alltag anders gestalten kann. Wie sie ihre nur kurzen Pausen im Job sinnvoll nutzen könnte. Welche Gerichte sich gut vorbereiten und mitnehmen lassen. Welche Möglichkeiten zur Bewegung nach Feierabend sinnvoll sind. „Wollen Sie vielleicht öfter kommen und wir kontrollieren das Abnehmen in kleineren Schritten à 200 Gramm?“, fragt sie. Brandt lehnt ab: „Für mich sind große Schritte ein größerer Erfolg.“ Eine gute Lösung für beide. Der nächste Termin wird auf einen Monat später festgesetzt.
Gesundheitskiosk und Ärzte in Billstedt und Horn arbeiten eng zusammen
Es ist schon diese Aufmerksamkeit, die Früchte trägt. Da ist jemand, der zuhört, der einen wertschätzt – Menschen wie Cagla Kurtcu und ihre fünf Kolleginnen, die alle examinierte Pflegefachkräfte mit zusätzlichem akademischen Abschluss sind. Besonderer Vorteil: Alle sechs Beraterinnen haben einen Migrationshintergrund und sprechen neben Deutsch auch Türkisch, Arabisch, Farsi, Russisch oder Polnisch – die Hauptsprachen in Billstedt.
Die Beraterinnen sorgen nicht nur dafür, dass die Menschen ihre Scheu überwinden und überhaupt zum Arzt gehen. Sie helfen auch nach dem Praxisbesuch weiter und erklären die oft schwer verständlichen Diagnosen und die Dosierung von Medikamenten. Die Ärzte im Stadtteil wissen diese Unterstützung zu schätzen. Eine enge Zusammenarbeit ist entstanden und ein weit verzweigtes Netzwerk bis hin in den psychosozialen Bereich.
Studie: Versorgung in benachteiligten Stadtteilen konnte deutlich verbessert werden
„Die enge Zusammenarbeit mit dem Gesundheitskiosk erhöht den Therapieerfolg und damit die Bereitschaft unserer Patient*innen, sich aktiv um ihre Gesundheit zu kümmern“, erklärt Hausärztin Helena Zielinski. Eine Studie der Uni Hamburg konnte belegen, dass die Versorgung der Menschen in Billstedt und Horn nachweislich verbessert wurde: Seit Gründung des Gesundheitskiosks vor fünf Jahren sind rund 15.500 Beratungen durchgeführt worden. Die Zahl der Hausarztbesuche hat sich in dieser Zeit verdoppelt, unnötige Krankenhauseinweisungen gingen um 19 Prozent zurück.
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Der Erfolg der Lebensretter von Billstedt hat sich bis zur höchsten Regierungsebene herumgesprochen. Die Ampelkoalition hat das Hamburger Projekt zum Modell für „besonders benachteiligte Regionen“ erklärt und ins Regierungsprogramm aufgenommen. Schon bald soll es überall in Deutschland Gesundheitskioske wie den in Billstedt geben. Die ersten beiden Kopien in Essen stehen kurz vor der Eröffnung.
Bundesregierung will überall in Deutschland Gesundheitskioske wie den in Billstedt einrichten
Ergänzend zu der Beratung sorgt der Gesundheitskiosk mit Kursen wie Rückentraining oder Nordic Walking dafür, dass die Bewohner des benachteiligten Stadtteils sich bewegen und an die frische Luft kommen. Frischgebackene Eltern erhalten Unterstützung bei der Versorgung ihrer Neugeborenen. Alten Menschen, die den Umgang mit dem Internet nicht gewohnt sind, wird geholfen, Online-Anträge zum Beispiel zur Einstufung des Pflegegrads auszufüllen.
Nach fünf Jahren ist der Gesundheitskiosk an der Möllner Landstraße eine Institution geworden. Doch trotz des Erfolgs: Die Finanzierung ist noch immer nicht stabil. Drei Jahre lang zahlte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) aus Ärzten, Krankenkassen und Experten. Danach gab es Einzelverträge mit bestimmten Kassen. Dieses Modell läuft Ende 2022 aus. Geschäftsführer Alexander Fischer macht sich Sorgen: „Wir brauchen Planungssicherheit, damit die sehr guten Mitarbeiter, die wir haben, die qualitativ sehr gute niedrigschwellige Versorgung für die Menschen im Quartier aufrecht erhalten können.“
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In Essen wird die Stadt 50 Prozent der Finanzierung für den Gesundheitskiosk übernehmen. In Hamburg gibt es dagegen bisher keine öffentlichen Zuschüsse. Der G-BA hat empfohlen, den Gesundheitskiosk in die Regelversorgung aufzunehmen.
Alexander Fischer und seine Mitarbeiter hoffen, dass es bald so weit kommt. Damit der kleine Superheld in der Billstedter Einrichtung mit seiner Süßigkeiten-Warnung auch künftig noch viele Kinder und ihre Eltern auf den richtigen Weg bringt.