Wie kaputt ist Russlands Armee wirklich?
Auf dem Papier ist die russische Armee den ukrainischen Streitkräften weit überlegen. In der Realität haben sie in den knapp vier Wochen der Invasion kaum entscheidende militärische Fortschritte gemacht. Wurden Putins Truppen gnadenlos überschätzt?
Die kremlnahe russische Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ sorgte jüngst für Wirbel: In einem Online-Artikel vom Sonntag war die Rede von knapp 10.000 russischen Soldaten, die seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gestorben sein sollen. Blitzschnell war der Artikel jedoch wieder gelöscht – zu spät: Mehrere Nutzer hatten bereits Screenshots gemacht.
Die veröffentlichen Zahlen scheinen realistisch
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Auf dem Papier ist die russische Armee den ukrainischen Streitkräften weit überlegen. In der Realität haben sie in den knapp vier Wochen der Invasion kaum entscheidende militärische Fortschritte gemacht. Wurden Putins Truppen gnadenlos überschätzt?
Die kremlnahe russische Zeitung „Komsomolskaja Prawda“ sorgte jüngst für Wirbel: In einem Online-Artikel vom Sonntag war die Rede von knapp 10.000 russischen Soldaten, die seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gestorben sein sollen. Blitzschnell war der Artikel jedoch wieder gelöscht – zu spät: Mehrere Nutzer hatten bereits Screenshots gemacht.
Die veröffentlichen Zahlen scheinen realistisch
Quelle der Angaben: das russische Verteidigungsministerium höchstselbst. Ihm zufolge kamen genau 9861 Soldaten beim Angriff auf das Nachbarland ums Leben. Das wären deutlich mehr als die 498 Toten, die Moskau bislang offiziell bestätigt hat. Zudem sollen gut 16.000 Russen bei den Kämpfen verletzt worden sein.
Die Zeitung selbst schrieb einen Tag später, man sei „gehackt“ worden, daher seien „gefälschte Inhalte rund um die Sonderoperation in der Ukraine“ auf der Seite erschienen. Der „Wall Street Journal (WSJ)“-Journalist Yaroslav Trofimov hatte das zuvor als eine mögliche Erklärung ins Spiel gebracht. Auf Twitter schrieb er: „Entweder KP.ru wurde gehackt oder jemand hat geleakte Zahlen bekommen und sie veröffentlicht.“
Die Zahlen scheinen nicht unrealistisch zu sein: Anfang März machte der Bericht eines angeblichen Insiders Schlagzeilen, der über die katastrophale Kriegsplanung Putins auspackte. Darin hieß es, dass in Moskau niemand genau beziffern könne, wie viele Russen in der Ukraine bislang schon getötet wurden, weil man „den Kontakt mit wichtigen Divisionen verloren“ habe. Es sei aber gut möglich, so der Insider, dass bereits mehr als 10.000 Soldaten umgekommen seien. Die renommierte Enthüllungs- und Fact Checking-Plattform „Bellingcat“ stufte den Bericht als authentisch ein.
Schätzungen zufolge kann Putin auf gut eine Million aktive Soldaten zurückgreifen
Auch andere Stellen bestätigen entsprechende Dimensionen: So berichtete der US-Sender CNN vergangene Woche unter Berufung auf US- und NATO-Beamte, in der Ukraine seien bereits „tausende russische Soldaten“ ums Leben gekommen. Die Quellen bezogen sich dabei auf Geheimdienstinfos sowie die Zahl der zerstörten russischen Panzer, die Auswertung von Satellitenbildern und abgefangene russische Kommunikation. „Es wird jeden Tag deutlicher, dass Putin sich grob verkalkuliert hat“, sagte ein hochrangiger NATO-Geheimdienstmitarbeiter zu CNN.
Dabei ist es nicht so, dass die russische Armee eine niedrige Mannstärke hätte. Im Gegenteil. Schätzungen zufolge kann Putin auf gut eine Million aktive Soldaten zurückgreifen. Aber: Deren Kampfmoral ist derzeit sehr schwach. „Wir glauben, dass einiges davon auf eine schlechte Führung zurückzuführen ist, auf einen Mangel an Informationen, die die Truppen über ihre Missionen und Ziele erhalten, und ich denke, auf Ernüchterung darüber, dass ihnen so heftig Widerstand geleistet wird“, zitierte CNN einen hochrangigen US-Verteidigungsbeamten.
Wer hat überhaupt das Kommando über die russischen Streitkräfte?
Stichwort Führung: Wer hat überhaupt das Kommando über die russischen Streitkräfte? Offenbar ist das nicht so ganz klar. Wie CNN weiter berichtete, verdichten sich die Anzeichen, dass Russland keinen Militärbefehlshaber für die Ukraine ernannt hat. Mehrere Quellen hätten dem Sender bestätigt, dass es stattdessen unterschiedliche Einheiten gebe, die miteinander konkurrierten „anstatt ihre Bemühungen zu koordinieren“.
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Aber kann das wirklich stimmen? Eine Militärinvasion ohne Oberbefehlshaber? Mark Hertling, früher Kommandeur der US-Armee in Europa, sagte dem Sender, bei jedem Krieg gelte das Prinzip der einheitlichen Kommando-Führung. „Das bedeutet, dass jemand die Gesamtverantwortung übernehmen muss – um die Angriffe zu koordinieren, die Logistik, Bereitstellung von Reservekräften, Messung des Erfolgs (und Misserfolgs) und Strategieänderungen.“
Hat Russland vielleicht einfach nicht mitgeteilt, wer das Kommando hat? Das sei möglich, so Hertling. Aber selbst wenn Moskau tatsächlich stillschweigend einen Oberbefehlshaber ernannt hat, würde der Stand der Kampfhandlungen darauf hindeuten, dass „er unfähig ist“, fällte der Experte ein deutliches Urteil.
Russlands Armee: schlechte Ausrüstung, abgelaufene Feldverpflegung
Zur mangelnden Führung und schwindenden Truppenstärke kommt eine schlechte und kontinuierlich dezimierte Ausrüstung. Schon Mitte März gab die ukrainische Zeitung „The Kyiv Independent“ an, Russland habe im Krieg gegen die Ukraine bereits knapp 60 Flugzeuge, gut 80 Helikopter, mehr als 360 Panzer und rund 1900 Militärfahrzeuge verloren. Die russische Seite machte dazu keine Angaben. Als gesichert gilt, dass Putin in der Ukraine schon jetzt mehr Truppen und Equipment verloren hat als die Sowjetunion in gut zehn Jahren Krieg in Afghanistan.
Schlagzeilen machte auch die schlechte Ausstattung der russischen Streitkräfte. So hätten gefallene oder gefangen genommene Russen keine Nachtsichtgeräte bei sich gehabt, erläuterte der Politikwissenschaftler Frank Sauer von der Bundeswehruni in München im MDR. Das bestätige die schon länger kursierenden Gerüchte, die Russen hätten keine Ausrüstung, um nach der Dämmerung größere Angriffe durchzuführen.
Der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko schrieb außerdem auf Twitter, russische Soldaten seien bereits in Stiefeln ukrainischer Soldaten gesehen worden. „Anscheinend ziehen sie ukrainische Produkte ihren eigenen vor“, so Ponomarenko.
Auch die Versorgung der Soldaten mit Lebensmitteln ist Gerüchten zufolge schlecht. Reporter berichten von fehlenden russischen Feldküchen und hungrigen Soldaten, die aus Verzweiflung desertierten. Ein Video, das auf Twitter kursiert, soll ukrainische Soldaten zeigen, die russische Feldverpflegung in Panzern entdeckt haben. Die soll den Bildern zufolge bereits 2015 abgelaufen sein.
Nun muss man natürlich alles, was ungefiltert im Netz geteilt wird, mit Vorsicht konsumieren. Aber, so Sauer: „Es mehren sich inzwischen die Hinweise aus verschiedenen Quellen derart, dass vieles von dem desolaten Zustand, über den in den sozialen Medien berichtet wird, tatsächlich der Wahrheit entspricht.“
Russland sollte dennoch nicht unterschätzt werden
Ist angesichts all dessen eine russische Niederlage nur eine Frage der Zeit? Experten warnen vor solchen Annahmen. Denn: Trotz aller Rückschläge ist Russland weiter eine militärische Großmacht. Journalist Trofimov appellierte daher im „WSJ“: „Oberste Priorität muss die Ausweitung von Waffenlieferungen nach Kiew haben, insbesondere der Luftabwehr gegen Russlands Langstreckenraketen und Höhenflugzeuge.“ Nur so sei sicherzustellen, schrieb Trofimov, dass die Ukraine der russischen Invasion weiter standhalten könne.