• Stockholm im November 2020.
  • Foto: dpa/XinHua

Sonderweg gescheitert?: Immer mehr Corona-Tote – Trauer und Frust in Schweden wachsen

Stockholm –

Lange beschritten sie den „schwedischen Sonderweg“, setzten nicht auf offizielle Verbote, sondern auf Empfehlungen. Und lange waren die Bürger zufrieden mit ihrer Regierung. Doch der Preis ist hoch: Nach einer harten zweiten Welle sind in dem skandinavischen Land mittlerweile fast 12.500 Menschen an Corona gestorben – und die Stimmung in der Bevölkerung beginnt zu kippen.

Im Herbst sah es noch gut aus: Trotz weniger Corona-Beschränkungen gab es nur wenig Neuinfektionen, einige glaubten sogar, Schweden werde vor einer starken zweiten Welle verschont. Doch sie kam – und sie war heftig: Rund 7500 Neuinfektionen pro Tag wurden im Januar zu Höchstzeiten gemeldet – und das bei nur rund zehn Millionen Einwohnern. Seit Mitte Januar sinken die Zahlen wieder.

Anders Tegnell

Der Epidemiologe Anders Tegnell hat Vertrauen verlorgen

Foto:

dpa/Folkhälsomyndigheten

Corona: Schwedischer Sonderweg gescheitert

Angesichts der vielen, vor allem älteren Todesopfer hatte König Carl XVI. Gustaf die Corona-Strategie des Landes schon im Dezember für „gescheitert“ erklärt. Nun hat auch der Staatsepidemiologe Anders Tegnell Fehler eingeräumt: Man habe die Anzahl der asymptomatischen Corona-Fälle in Schweden überschätzt, sagte er vor der Oxford Union, einem Debattierclub der gleichnamigen britischen Uni. Der Schweizer „Blick“ und der britische „Telegraph“ zitieren aus dem Gespräch.

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Man sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass viele der Covid-19-Erkrankten keine Symptome zeigten – aber trotzdem eine Immunität entwickeln. Die Folge: Tegnell glaubte, dass schon viel mehr Schweden gegen Corona immun seien, als es der Fall war – und ging davon aus, dass die zweite Welle das Land deutlich leichter treffen würde. „Das hat sich als nicht richtig erwiesen, denn die Immunität in der Bevölkerung hat sich viel, viel niedriger entwickelt, als es jemand von Anfang erwartet hatte“, zitiert ihn „Blick“. Nun meint Tegnell, dass eine Herdenimmunität ohne Impfstoff nicht zu erreichen sei.

Schweden: Vertrauen der Bevölkerung sinkt

Kommt diese Einsicht zu spät? Laut einer “Ipsos“-Umfage ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Corona-Politik bereits stark gesunken: Im Oktober 2020 hatten noch 72 Prozent der Schweden „großes Vertrauen“ in Tegnell, jetzt sind es nur noch 54 Prozent. Auch der Regierungschef Stefan Löfven kommt in der Umfrage nicht gut weg: Nur noch 26 Prozent finden, der Ministerpräsidenten mache seine Sache gut.

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Der Frust vieler Schweden spiegelt sich auch in der öffentlichen Debatte wider, deren Ton immer schärfer wird. Wie der „Spiegel“ berichtet, will sich etwa Jonas Ludvigsson, Kinderarzt und Professor für Epidemiologie, nun aus der Öffentlichkeit zurückziehen, sogar seine Forschungsarbeit zu Covid-19 will er beenden. Ludvigsson hatte sich prominent gegen Lockdowns ausgesprochen und noch Anfang Januar behauptet, Grundschüler und Lehrer hätten nur ein geringes Risiko, an Covid-19 zu erkranken. Das hatte zu heftiger Kritik anderer Wissenschaftler und zahlreicher wütender Eltern und Lehrer geführt. Jetzt zieht Ludvigsson Konsequenzen: „Wenn man nachts wachliegt und nicht mehr schlafen kann, dann ist es das nicht wert“, zitiert ihn der „Spiegel“. „Die andere Seite hat gewonnen.“

Corona-Debatte: Der Ton verschärft sich

Besonders aggressiv in ihrer Kritik sind laut „Spiegel“ auch 200 Aktivisten der Facebook-Gruppe „Media Watchdogs of Sweden“. Sie fordern, dass sich die Verantwortlichen der Corona-Strategie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verantworten sollten. Laut „Spiegel“ zog der Gruppen-Gründer Keith Begg sogar Vergleiche mit dem Euthanasie-Programm der Nazis. „Diese Art von Gruppe ist eine Bedrohung für die Demokratie“, twitterte nun die Wissenschaftsjournalistin Emma Frans, auch ein öffentlich-rechtlicher Radiosender knöpfte sich die Gruppe vor. Der Streit um die Bewertung des schwedischen Sonderwegs hat begonnen.

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