St. Pauli-Kommentar: Blessins Handeln zeigt, wie ernst die Lage ist
Ein Stadion, zwei Welten. Eine emotionale Achterbahnfahrt, so heftig hoch und runter, wie sie der Hamburger Dom nicht bieten kann. Drei Tage lagen zwischen Triumph und Tiefpunkt, Aufbruchstimmung und Abgrund, zwischen dem befreienden Jubel nach dem siegreichen Elfer-Drama gegen Hoffenheim und der totalen Tristesse des 0:4 in der Liga gegen zuvor in 15 Spielen in Serie sieglose Mönchengladbacher, was die ganze Sache nur noch schlimmer machte. Als i-Tüpfelchen dann am Sonntag die Pokal-Auslosung als bitter-böse Pointe: weil es so schön war, gleich noch mal gegen Gladbach. Es passt zur aktuellen Situation.
Die Euphorie, Erleichterung und neue Hoffnung beim FC St. Pauli nach dem Pokal-Thriller sind gefühlt so schnell verpufft wie ein Tropfen Astra auf dem Stein eines glühenden Saunaofens und das gilt auch für die zahlreichen und teilweise radikalen Maßnahmen von Trainer Alexander Blessin vor dem Liga-Duell mit dem Tabellenletzten und auch während des Spiels. Pfffffft!
Blessins Maßnahmen zeigen, wie groß die Probleme sind
Brustlöser, Dosenöffner, Befreiungsschlag, Kehrtwende, Durchbruch, Aufbruch, Aufschwung. Starke Worte, die man alle getrost streichen kann, wenn sie nicht mit Inhalt gefüllt und Taten gelebt werden. Apropos Taten.
Es ist die Masse und Massivität der jüngsten Veränderungen in der Mannschaft, die dokumentiert, wie groß die Probleme bei den Kiezkickern sind und auch, dass Blessin langsam die Geduld mit einigen Spielern verliert, so scheint es zumindest.
Der Coach hatte, nachdem er im Vorfeld der Partie die Stammplätze in der Offensive aufgrund wenig überzeugender Darbietungen in letzter Zeit allesamt „auf den Prüfstand“ gestellt hatte, seinen Worten Taten folgen lassen und gegen Gladbach mit Oladapo Afolayan, Danel Sinani und Mathias Pereira Lage eine im Vergleich zum Pokalspiel komplett neue Dreier-Offensivreihe ins Rennen geschickt, die darüber hinaus so noch nie zusammengespielt hat. Kann man machen am Ende einer englischen Woche. Muss man aber nicht.
Totale Sturm-Rotation gegen Gladbach ohne Erfolg
Ebenso radikal war Blessins Reaktion zur Halbzeit, das Trio auf einen Schlag auszuwechseln und mit Andréas Hountondji, Abdoulie Ceesay und Martijn Kaars ein komplett neues zu bringen. Mit dem gleichen Erfolg, besser: Misserfolg. Sechs Spieler, die allesamt gemeinsam und jeder für sich zu wenig aus ihren jeweils 45 Minuten machten. Keiner von ihnen bewarb sich nachdrücklich für einen Startelf-Platz im nächsten Spiel. Krass. Blessins personelle Rolle rückwärts zur Halbzeit dokumentierte aber auch, dass sein ursprünglicher Sturm-Plan nicht aufgegangen war. Und: Nach 45 Minuten waren durch seine Revision schon drei Wechselmöglichkeiten aufgebraucht. Es war ein „All-in-Move“.
Dass der Sturm dadurch bei der kritischen Betrachtung des Spiels besonders in den Fokus geriet, korrigierte Blessin später verbal. Es solle nicht der Eindruck entstehen, „dass die Stürmer schuld waren. Ich glaube, ich hätte noch mehr auswechseln können“.
Blessin ist nicht das Problem – aber er hat eines
Damit nicht genug: Blessin stellte zur zweiten Halbzeit auch noch die Abwehr von einer Dreierkette auf eine Viererkette um, ohne dass er dazu durch eine Verletzung eines Spielers gezwungen gewesen wäre. Eine Veränderung des Mannschaftsteils, der in der Vorsaison die Basis des Erfolgs war, das Fundament. Das sagt einiges. Es war der Versuch, der Mannschaft mehr Stabilität zu verleihen. Das Ergebnis ist bekannt. Was daran lag, dass es bei der Niederlage nicht um die richtige oder falsche Aufstellung, sondern um Einstellung ging. Auch eine Achterkette hätte angesichts der Mängel im Spiel gegen den Ball (Laufbereitschaft, Zweikampfhärte) ausreichend Lücken für galoppierende „Fohlen“ offenbart.
Totale Sturm-Rotation, Abwehr-Umbau – ganz schön viel für ein Spiel. Eine Menge Veränderung bei einer Mannschaft, die auf der Suche nach Konstanz, Stabilität, Rhythmus ist. Kontraproduktiv? Es wäre ein Leichtes und sehr branchenüblich, das alles dem Trainer vorzuwerfen als – wahlweise – Aktionismus, Ratlosigkeit, Planlosigkeit, Hilflosigkeit. Blessin hat sicher nicht alles richtig gemacht in den vergangenen Wochen, aber er ist nicht das Problem. Nur: Er hat ein Problem. Und ist qua Amt der Mann, der Lösungen finden muss.
Zu viele Spieler schwächeln – nicht alle ziehen voll mit
Zu viele Spieler sind zum Teil weit von ihrer (letztjährigen) Topform entfernt – und zugleich nagt jede Niederlage am Selbstvertrauen und an der Sicherheit, was ein Teufelskreis ist. Viele Profis rechtfertigen derzeit das in sie gesetzte Vertrauen nicht, nutzen ihre Chance nicht, wenn sie sie bekommen, werden ihren eigenen Ansprüchen oder auch ihrer Selbstwahrnehmung nicht gerecht. Einige Kiezkicker wollen, aber können es derzeit nicht besser, bei anderen scheint die Bereitschaft zu fehlen, regelmäßig an die Schmerzgrenze zu gehen oder einfach nur diszipliniert die Vorgaben zu erfüllen. So etwas ist komplex und deshalb kompliziert.
Der Trainer ist nicht unbeteiligt. Blessin hat aktuell nicht sonderlich viel Geduld mit Teilen seines Personals, wenngleich seine Geduld teilweise auch schon arg überstrapaziert wurde. Spielern Rückendeckung zu geben, ihnen Vertrauen zu schenken und sie starkzureden ist das eine – und unerlässlich. Wiederholt enttäuscht zu werden, das andere. Ein Trainer muss glaubwürdig bleiben bei dem, was er einfordert und zur Bedingung macht, ob jemand viel spielt oder wenig oder gar nicht.
Rechtsverteidiger: Das Wechselspiel funktioniert nicht
Dennoch: Manch einer mag mehr als ein Spiel brauchen, um Sicherheit zu gewinnen, einen Rhythmus zu erlangen und dann auch wieder Selbstvertrauen auszustrahlen. Um ein Beispiel zu nennen: Das andauernde Wechselspiel auf der rechten Seite zwischen den Schienenspielern Manolis Saliakas, aktuell weit von seiner Bestform und Konstanz entfernt, und Arkadiusz Pyrka sorgt nicht dafür, dass auf Position Stabilität herrscht. Das ist Fakt, mögen auch nicht alle Gründe bekannt sein. Ja, beide lieferten zuletzt durch wacklige Auftritte und auch entscheidende Fehler Argumente, sie aus der Startelf zu nehmen und wieder den jeweils anderen aufzustellen, aber dieses Prozedere hat sich verselbstständigt zu einer Dauerschleife der Defizite. Das ist bitter. Die Probleme mögen vielschichtig sein: Der zu Saisonbeginn als offen ausgerufene Konkurrenzkampf kitzelt jedenfalls nicht das Beste aus beiden heraus. Das kann jeder sehen.
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Blessin nimmt sich in diesen Tagen nicht von Kritik aus, hinterfragt nach eigenen Angaben einige seiner Maßnahmen und sagt dies auch öffentlich. Das ist ein wichtiges Signal – auch nach innen. Das ist aber auch sein Job. In einem hochdynamischen Berufsfeld ist durchgehende Reflexion und Selbstreflexion Pflicht. Er ist ein hervorragender Trainer, wie er bei den Braun-Weißen nachgewiesen hat. Das große Vertrauen der Vereinsführung hat er sich verdient und nichts deutet bislang darauf hin, dass es Risse bekommen hat. Aktuell ist Blessin aber mehr als Psychologe gefordert denn als Taktikfuchs, um seine Mannschaft wieder auf das Level zu bringen, auf dem sie schon einmal war.
Alexander Blessin arbeitet unter erschwerten Bedingungen
Nicht vergessen werden darf in der Gesamtbetrachtung, dass der 52-Jährige in den vergangenen Wochen unter erschwerten Bedingungen gearbeitet hat, die über die Trainertätigkeit hinausgingen. Genannt seien hier das Dauer-Thema Jackson Irvine, befeuert von einem frei drehenden Aufsichtsrat, der Wirbel um die Fan-Randale und die anschließenden Polizei-Maßnahmen rund um das Frankfurt-Spiel, aber auch der lange krankheitsbedingte Ausfall und schließlich Abschied seines Co-Trainers Thomas Risch. Ruhig ist anders. Ruhig muss es wieder werden. Im ganzen Verein.
Vor allem muss das Team wieder zusammenfinden und eine Einheit werden. Die Mannschaft muss eng zusammenrücken, sich zusammenreißen und sich zusammenschweißen. Aktiv. Eine Krise kann dabei helfen – um an dieser Stelle der misslichen Lage mal etwas Positives abzugewinnen. Der Trainer wiederum muss die richtigen Hebel finden, die Mannschaft mitnehmen und braucht dabei die Hilfe der Führungsspieler als Bindeglieder, Multiplikatoren und Vermittler – und nicht zuletzt als Leistungsträger auf dem Rasen.
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Ja, es ist noch früh in der Saison, Tabellenplatz 15 nicht der Vorhof der Hölle und lieber jetzt die Krise als in der Endphase der Spielzeit. Aber: Diese Argumentation darf nur der konstruktiven Ruhe dienen, nicht der Beruhigung. St. Pauli braucht im nächsten Spiel beim SC Freiburg einen Turnaround, mindestens, was die Leistung angeht. Die Leistungskurve muss wieder nach oben gehen. Dann kommen früher oder später auch wieder die ersehnten Ergebnisse. Alexander Blessin hat schon sehr viel versucht in den vergangenen Tagen und Wochen. Seine nächsten Maßnahmen sollten lieber greifen und fruchten.
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