Ernie Reinhardt wird 70: Der Mann, der Lilo Wanders ist
Dieser Star hat mehr als „Wa(h)re Liebe“ zu bieten: Mit Charme und Witz engagiert sich Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders bis heute für Menschlichkeit. Nun wird der Künstler 70 Jahre alt.
Wenn Ernie Reinhardt in seinen Alltagsklamotten durch Hamburgs Straßen läuft, dürfte ihn kaum jemand erkennen. Ganz anders sieht es aus, wenn der 69-Jährige zuvor in seine Paraderolle geschlüpft ist und als glamourös frivole Entertainerin Lilo Wanders unterwegs ist. Dann ist das Hallo groß, vor allem auf der Reeperbahn.
Dort hat Reinhardt im von ihm mitgegründeten Schmidt Theater als platinblonder Travestie-Star jahrelang für ausverkaufte Shows gesorgt. Dem Fernsehpublikum ist „die Wanders“ vor allem als (S)Expertin der Vox-Sendung „Wa(h)re Liebe“ ein Begriff. Zehn Jahre lang – 1994 bis 2004 – plauderte sie entspannt, ehrlich, charmant und frech über Pornofilme, Swingerclubs, erotische Praktiken und vieles mehr. Nun – am kommenden Montag (22. September) – wird Ernie Reinhardt 70 Jahre alt.
Aufbruchstimmung und Lebenswandel
Und statt Lehnstuhl und Seniorengymnastik konzentriert sich der Schauspieler aufs Packen von Umzugskisten – und plant viele Lesungen im Norden Deutschlands. „Es ist mal wieder ein weiterer Aufbruch“, sagt Reinhardt der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg. Der Travestie-Künstler hat gerade seinen Bauernhof im Alten Land (Niedersachsen) vor den Toren der Hansestadt verkauft. Er wirkt dabei gelöst. In den vergangenen Monaten hat er viel geschafft, sich mit sich selbst und seinem Leben auseinandergesetzt.
Bereits am Mittwoch (17. September) stellt Reinhardt – homosexuell, dennoch seit 1985 in offener Ehe mit seiner Frau Brigitte lebend und Vater von drei erwachsenen Kindern – in Hamburg seine Autobiografie „Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?“ (Goldmann Verlag) vor. Viele Medientermine stehen an. Seinen Geburtstag feiert er groß bei einer Gala in Frankfurt (Oder). „Das hätte ich auch mal nicht gedacht, dass mein Leben noch mal so an Fahrt aufnimmt“, sagt Ernie Reinhardt lachend.
Aus der Provinz ins Scheinwerferlicht
Und wie geht es ihm bei alledem? „Es klären sich gerade so viele Dinge. Ich bin permanent unterwegs“, sagt er kurz vor seinem 70. Geburtstag. Dazu passt, dass der Künstler auch ein neues Bühnensolo fast fertig hat.
So nach und nach wolle er sich allerdings, dem Alter geschuldet, wohl doch zurückziehen, merkt er an. In seinen angenehm unprätentiös und spürbar offen geschriebenen Memoiren – und auch im Gespräch – erlebt man Reinhardt als hochsensiblen, überraschend schüchternen und sich oft nicht geliebt fühlenden Menschen. Der nach einer von Todesfällen, emotionaler Kälte im Elternhaus und Armut beschatteten Mittelstands-Jugend den Weg zur Diva fand.
„Ich weiß auch, was Depression heißt“
Wobei ihm die Bewusstwerdung, ein schwuler Junge zu sein, in der Lüneburger Heide nicht gerade leichter fiel. „Ich habe irgendwann entdeckt, wenn ich jemand anderes bin, kann ich `ich´ sein. Deshalb der Wunsch, zur Bühne zu gehen“, erklärt der in Celle geborene und zumeist im heutigen Bad Fallingbostel aufgewachsene Künstler der dpa. „Und ich weiß auch, was Depression und grundlegende Einsamkeit heißt, immer wieder. Aber dann tritt das mir anerzogene Pflichtgefühl hinzu – das Dem-nicht-nachgeben-dürfen.“
Ein Segen war deshalb die Wertschätzung, die er auf der Bühne erleben durfte. Erfolg und die Zuneigung der Menschen hätten ihm mehr Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit geschenkt, verrät der Entertainer mit seiner hell klingenden Stimme. 2023 war er in der Ruhrgebietsstadt Herne für sein Lebenswerk mit dem Jürgen-von-Manger-Preis ausgezeichnet worden. Reinhardt ist auch Initiator, Mitbegründer und Vorstand der „Come Out! Stiftung“ (Mülheim), die seit 2021 junge Menschen in ihrem Anderssein unterstützt.
Suizidversuch mit 18, dann Metamorphose im Rotlichtviertel
Doch der Weg nach oben war lang und steinig. Ein Suizidversuch mit 18 Jahren war der Tiefpunkt seiner frühen Jahre. Später begann Reinhardt, bis heute eine Leseratte, in Hamburg ein Studium der Bibliothekswissenschaften, das er abbrach. In der Hansestadt erkundete er die Schwulenszene der 1970er – auch in ihren politischen Kampf gegen den mehrfach modifizierten Paragrafen 175. Sang im „Tunten-Chor“, traf den Aktivisten Corny Littmann, spielte mit ihm in der freien Gruppe „Familie Schmidt“. Was am 8. August 1988 zur Gründung der Kiez-Bühne Schmidt Theater nahe der Reeperbahn führte.
Dort erblickte auch Lilo Wanders das Licht der Welt – Reinhardt gestaltete sie zunächst als schrille Karikatur der Kriegs- und Nachkriegssängerin Evelyn Künneke („Sing, Nachtigall, sing“).
Lilo Wanders ist ein Abbild seines inneren Selbst
Für die zur Nachtstunde laufenden „Wa(h)re Liebe“-Episoden entwickelte der Künstler „die Wanders“ aber weiter, gestaltete sie vielschichtiger und warmherziger – letztlich als Abbild seines eigenen inneren Selbst, sagt Reinhardt. Denn in den Sendungen, in denen er einige der schlüpfrigen Beiträge durchaus als grenzwertig empfand, wollte er respektvoll auftreten.
Aufklären, Vorurteile abbauen, auch Provozieren – ja. Aber eben subversiv auf amüsante Weise. „Ich wollte das nicht mit der Keule machen“, erinnert sich der Moderator, „und bin ohnehin kein Kämpfer. Obwohl mein Herz links schlägt.“ Mit charmantem Wanders-Lachen sagt er: „Man braucht Empathie und Humor für so ein Unterleibs-Magazin. Ich hatte immer den gesunden Abstand eines Leichenwäschers.“
Auch Hamburgs Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda (SPD), würdigt den Künstler. „In Lilo Wanders hat Ernie Reinhardt eine echte Kunst- und Kultfigur geschaffen, deren Weg untrennbar mit der Reeperbahn und Schmidt’s Tivoli verbunden ist. Er wirkte weit über Hamburgs Grenzen hinaus und hat für die Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen einen bedeutenden Beitrag geleistet“, erklärte Brosda auf dpa-Anfrage. „Mit viel warmherzigem Humor zeigt Lilo Wanders uns immer wieder, wie wundervoll eine bunte, vielfältige Gesellschaft ist, in der alle leben und lieben können, wie sie wollen.“
Liebe – eine Berührung der Seelen
Und was versteht Reinhardt heute unter wahrer Liebe? „Selbstaufgabe ist es nicht“, antwortet der 69-Jährige, „eher, dass sich zwei Seelen berühren – kurz- oder längerfristig.“ Tiefe Verbundenheit mit einem Mann habe er im Leben dreimal erfahren – und danach jahrelanges Herzensleid.
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Wie sieht er denn die Beziehung zwischen Liebe und Sex? „Sex kann sein wie ein Besuch im Imbiss – schnell den Hunger gestillt und danach vergessen. Mein Bestreben ist das nicht“, sagt Reinhardt, „aber natürlich habe ich Verständnis dafür – wenn alle Beteiligten es wollen.“ Und der bald 70-Jährige fügt hinzu: „Aber wenn man einmal das andere erfahren hat, also das zelebrierte Dinner, dann ist einem auch klar, dass das eine Stufe darüber ist.“
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