Eine Frau mit Protestschild

Eine Frau protestiert gegen das Schulverbot für Mädchen. (Archivbild) Foto: picture alliance / abaca | Zerah Oriane/ABACA

Vier Jahre Taliban: Die unbeugsamen Frauen Afghanistans

kommentar icon
arrow down

Während die Welt weiterzieht, kämpfen Frauen wie Roja und Schila gegen das Verschwinden ihrer Freiräume. In versteckten Salons, geheimen Klassenzimmern und via Internet halten sie ihre Träume am Leben.

Wenn Frauen den Schönheitssalon in der westafghanischen Stadt Herat betreten, geht die Angst mit jedem Schritt mit. Möglichst unauffällig huschen die Kundinnen in den Laden, beim Hinausgehen verschwinden ihre geschminkten Gesichter hinter Schleier oder Mundschutz.

„Früher habe ich mein Geschäft mit geschmückten Schaufenstern und bunten Tafeln angepriesen und stolz meine Visitenkarten verteilt“, erinnert sich Schila, die zu ihrem Schutz nur mit Vornamen genannt wird. Vor zwei Jahren ordneten die herrschenden Taliban aber die landesweite Schließung der Schönheitssalons an. Seitdem betreibt die 20-jährige ihr Geschäft heimlich von zu Hause aus. 

Blitzoffensive der Taliban liegt vier Jahre zurück

Vier Jahre ist es nun her, dass mit dem Abzug der internationalen Truppen und nach einer Blitzoffensive der Taliban am 15. August 2021 Kabul wieder an die Islamisten fiel, als letzte Stadt Afghanistans. Nach der Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani und dem endgültigen Zusammenbruch der vom Westen gestützten Regierung blieb eine traumatisierte und kriegsmüde Bevölkerung zurück. Während die Aufmerksamkeit der Welt längst woanders liegt, kämpfen Afghaninnen trotz stärker werdender Repressalien weiter für ihre Freiräume. 

Afghanistan: Arbeit im Untergrund

Unter den Machthabern in Kabul sind Frauen von höherer Bildung mittlerweile ausgeschlossen, auch wurden sie aus zahlreichen Berufen gedrängt. Frauen wie Schila arbeiten nur noch im Untergrund. Kundinnen weise sie an, ihren Salon nicht mehr in Gruppen aufzusuchen. Auch Kinder müssten nun zu Hause bleiben – aus Angst davor, dass sie zu viel Lärm machten und damit unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Ihre Arbeit erledige sie schnell und nervös. Wolle eine Braut sich ihr Make-up machen lassen, müsse das bunt geschmückte Hochzeitsauto mehrere Straßen weiter parken. „Einmal haben mich die Taliban trotzdem erwischt und mir gedroht, meine Arbeitsmaterialien zu zerstören“, erzählt sie. Aufgeben käme aber nicht infrage – ihre Familie sei auf ihr Einkommen angewiesen. 

Experte: Taliban wurden im vierten Jahr noch restriktiver

Im August vergangenen Jahres erließen die Taliban das sogenannte Sittengesetz, das Frauen unter anderem eine Vollverschleierung in der Öffentlichkeit vorschreibt. Die Machthaber seien im vierten Jahr ihrer Herrschaft noch restriktiver geworden, sagt Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. Frauenproteste, wie sie in einigen Städten noch zu Anfang ihrer Herrschaft zu sehen waren, hätten die Islamisten erfolgreich zerschlagen und in den Untergrund gedrängt. 

Aufgrund der repressiven Taliban-Herrschaft steht Afghanistan unter weitreichenden Wirtschaftssanktionen. Große Teile des Landes leben in Armut, massenhafte Abschiebungen von Afghanen aus den Nachbarländern Iran und Pakistan verschärfen die Lage zusätzlich. „Nach dem Sudan herrscht in Afghanistan die zweitgrößte humanitäre Katastrophe weltweit“, sagt Ruttig. 

Ständige Suche nach Auswegen

Vergangenen Juli erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Haftbefehle gegen zwei Taliban-Führer. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit wegen der Entrechtung von Frauen und Mädchen.

Noch versuchen afghanische Frauen dem strengen Regelwerk aus der südlichen Stadt Kandahar, dem politischen und spirituellen Zentrum des Landes, zu trotzen. Einige Schulen unterrichten entgegen der offiziellen Anordnung ältere Mädchen einfach weiter – auch weil manche Taliban-Funktionäre diese stillschweigend dulden. 

Frauen unterrichten Mädchen zu Hause

Andere Frauen bilden sich online weiter oder unterrichten Mädchen zu Hause. „Anfangs waren zehn bis 15 Mädchen in unseren Klassen“, sagt eine Lehrerin, die zusammen mit ihrer Schwester Mädchen in privaten Räumen unterrichtet. Aus Angst vor Repressionen will sie nicht namentlich genannt werden. „Inzwischen haben wir mehr als hundert Schülerinnen.“

Auch zeigen sich anders als während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 nach wie vor noch Frauen mit unverhülltem Gesicht und ohne männliche Begleitung auf den Straßen größerer Städte. Doch das kann Folgen haben. Wie die Vereinten Nationen in einem Bericht im Vorjahr dokumentierten, kommt es in Kabul immer wieder zu Verhaftungen von Frauen aufgrund angeblicher Verstöße gegen die Kleiderordnung. „Diese Vorfälle tragen dazu bei, Frauen und Mädchen weiter zu isolieren, ein Klima der Angst zu schaffen und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu untergraben“, hieß es in dem Bericht. 

Kontrollen der Sittenpolizei

Aus einem UN-Bericht von Mitte Juni geht hervor, dass fast achtzig Prozent aller Frauen unter 30 Jahren mittlerweile von Bildung oder Arbeit ausgeschlossen sind. Roja Mohammadi gehört zu den wenigen Unternehmerinnen, die noch im Land aktiv sind. Sie verkauft Handarbeit im afghanischen Stil – Kleidung, Taschen, Schuhe. Ihre weiblichen und männlichen Angestellten müssten nach Geschlecht getrennt arbeiten – regelmäßig käme die Sittenpolizei der Taliban für Kontrollvisiten vorbei. 

„Früher hatte ich zahlreiche Kundinnen, die sich Kleidung für ihr Büro gekauft haben. Heute sitzen diese Frauen zu Hause.“ Mittlerweile verkaufe sie einen Großteil der Produkte übers Internet ins Ausland, erzählt die Unternehmerin. In Afghanistan seien die Menschen aufgrund der herrschenden Wirtschaftskrise vor allem mit dem Überleben beschäftigt. 

„Geruch von Schießpulver ist verschwunden“

Gleichzeitig hat sich die Sicherheitslage in dem Land nach Jahrzehnten der Kriege und Konflikte Beobachtern zufolge stark gebessert. Auch gelten die Taliban als weit weniger korrupt als die vom Westen gestützte Vorgängerregierung. „Derzeit gibt es keinen Krieg und keine Morde, keine nächtlichen Razzien in den Häusern der Menschen, keine Explosionen“, beschreibt Geschäftsmann Mohammad Suleiman aus Kabul die Erleichterung über das Ende der Kämpfe. Kabul sei wieder grün geworden. „Neue Vögel kommen, weil es in der Stadt keinen Geruch von Schießpulver mehr gibt.“

Insbesondere regionale Mächte hätten kein Interesse an einer erneuten Destabilisierung Afghanistans und einer Stärkung terroristischer Gruppierungen wie dem Islamischen Staat, sagt Experte Asfandyar Mir von der Denkfabrik Stimson Center in Washington. Im Juli hat Russland als erster – und bislang einziger – Staat der Welt die Taliban-Regierung offiziell anerkannt. Regionale Nachbarländer pflegen einen pragmatischen Umgang mit den Islamisten, insgesamt bliebe das Land jedoch auch vier Jahre nach dem Machtwechsel isoliert, sagt Mir.

Ruttig: Nicht Afghanen die Niederlage des Westens ausbaden lassen

Die Bundesregierung stellt derweil freilich keine Anerkennung in Aussicht, Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) kündigte jedoch an, für weitere Abschiebungen nach Afghanistan direkte Gespräche mit Kabul führen zu wollen. Zur Unterstützung weiterer Abschiebeflüge ließ die Bundesregierung im Juli erstmals seit der Machtübernahme der Taliban zwei von den Islamisten entsandte Konsular-Mitarbeiter nach Deutschland einreisen. 

Das könnte Sie auch interessieren: Grüne stellen Antrag auf graue Tonnen am Gehweg – aber nicht für Müll!

Angesichts der prekären Menschenrechtslage unter den Taliban spricht Afghanistan-Experte Ruttig von einem „Werteverkauf“. Vielmehr gelte es, die Bevölkerung angesichts der humanitären Krise mit Entwicklungszusammenarbeit zu unterstützen. Man dürfe sich von dem Land nicht abwenden und nicht die Menschen die Niederlage des Westens ausbaden lassen, betont Ruttig. 

Doch die mutigen Frauen Afghanistans fühlen sich von der internationalen Gemeinschaft bereits vergessen. „Viele Frauen sind deprimiert“, sagt Kosmetikerin Schila. „Gleichzeitig sind wir aber stark und weigern uns, aufzugeben.“

Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp
test