Der Katar danach: Warum die WM-Kritiker nicht zu den WM-Gewinnern wurden
Nach 29 Tagen ist sie vorbei, die WM in Katar. 29 Tage, in denen die Scheinwerfer grell strahlten auf das Emirat am Persischen Golf, den umstrittensten Gastgeber in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften, der sich gestern stolz auf die Schultern klopfte. Katars Masterplan, er ist aufgegangen, weil die Kritiker viel zu spät erwachten und zu den falschen Mitteln griffen. Letztlich war der langfristige Umgang mit dieser Weltmeisterschaft ein Lehrbeispiel, wie man es nicht machen sollte. Die große MOPO-Analyse.
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Nach 29 Tagen ist sie vorbei, die WM in Katar. 29 Tage, in denen die Scheinwerfer grell strahlten auf das Emirat am Persischen Golf, den umstrittensten Gastgeber in der Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften, der sich gestern stolz auf die Schultern klopfte. Katars Masterplan, er ist aufgegangen.
Die FIFA durfte Rekordzahlen verkünden. Die TV-Quoten rund um den Erdball, sie schossen bei dieser WM in die Höhe. In Japan zum Beispiel schauten 36 Millionen Menschen zu, als der DFB-Schreck gegen Costa Rica spielte, die Zuschauerzahlen lagen um 74 Prozent über denen von 2018, in Südkorea lag die Zuwachsrate bei fast 100 Prozent.
In den Niederlanden lagen die Marktanteile bei Oranje-Spielen bei rund 80 Prozent, auch Portugal verzeichnete Allzeitrekorde, in Frankreich schauten schon beim Halbfinale mehr Menschen zu als beim WM-Endspiel vor vier Jahren. Der deutsche Quoten-Sinkflug, er ist für den Weltverband und den WM-Ausrichter eine Fußnote, wenn überhaupt.
Tausende Tote auf WM-Baustellen – Korruption bei der FIFA
Deutschland betrachtete diese WM aus einer grauen Brille. Mit Recht. Bei so viel Unrecht. Natürlich. Eine Weltmeisterschaft, die sich der Ausrichter 220 Milliarden Euro kosten ließ, eine Weltmeisterschaft, für die Tausende Arbeiter sterben mussten, sie ist falsch, sie war falsch, sie wird immer falsch bleiben.
Falsch aber war auch die Herangehensweise des Protestes. Zwölf Jahre ist es her, dass die FIFA die WM nach Katar vergab, weil hinreichend viele Mitglieder des Exekutivkomitees Zuwendungen bekamen, die sie aus ihrer Sicht nicht ablehnen konnten.
Zwölf Jahre hätten die Fußballverbände und -konföderationen Zeit gehabt, Allianzen (gegen die FIFA) zu schmieden, um diese WM im besten Fall zu verhindern oder zumindest im zweitbesten Fall auf Katar einzuwirken. Durch Austausch. Durch Gespräche. Durch Wissenstransfer. Durch Unterstützung bei der Umsetzung von Reformen.
WM im Winter – Deutsche Unternehmen schweigen
Stattdessen schaute man weg oder machte sich die Taschen voll. Die Kritik an Katar war lange getrieben von eurozentrischen Sichtweisen. Eine WM im November und Dezember, sie raube uns die Möglichkeit des kollektiven Feierns. Ob die nicht minder fußballbegeisterten Südamerikaner erstmals die Gelegenheit hatten, eine Sommer-WM zu erleben, interessierte hierzulande kaum jemanden.
Auf den WM-Baustellen, auf denen die Arbeiter starben, wehten die Fahnen von Siemens, Züblin & Co., Katars WM-Bewerbung war vom deutschen Architekturbüro Albert Speer und Partner gestaltet worden. Ein Bild von einem deutschen Wirtschaftsführer, der mit Regenbogenbinde nach Katar reiste, ist nicht überliefert.
Deutschland bückte sich vor dem Emir. Wirtschaftlich. Politisch. Und weil man das Florett zwölf Jahre nicht im Schrank fand, musste für die wenigen Wochen vor und während der WM dann der Vorschlaghammer her.
Protest mit One-Love-Binde schlägt fehl – DFB-Elf scheidet früh aus
Die Aufgabe, es dem homophoben und frauenfeindlichen Regime zu zeigen, übertrugen alte, weiße Männer jungen Sportlern. Der Eklat um die „One Love“-Binde, sie machte Deutschland auch auf dieser Ebene zu einem großen Verlierer dieser WM. Sportler wurden als Feiglinge beschimpft, weil sie ihren Lebenstraum nicht kurzfristig für ein politisches Signal opfern wollten, zu dem sich Funktionäre, Politiker und Wirtschaftsbosse zwölf Jahre nicht in der Lage sahen. Viel bigotter geht es nicht.
An Tag zwölf von 29 war diese WM für Deutschland beendet. Erreicht hatte man: nichts. Für das Eintreten politischer Werte fand der DFB irgendwann keinen einzigen Mitstreiter mehr. Für das Scheitern auf der sportlichen Bühne reichten 20 schwache Minuten gegen Japan. Deutschland spielte nicht so schlecht, wie es gemacht wurde. International aber weinte der Mannschaft niemand eine Träne nach und unter den eigenen Fußballfans machte sich allenfalls Ernüchterung breit.
Oliver Bierhoff tritt zurück – DFB bestimmt Task Force
Der Rücktritt von Oliver Bierhoff, der sich sowohl als Baumeister des WM-Titels von 2014 als auch von der anschließend einsetzenden Entfremdung bezeichnen darf, war konsequent und bietet mit Blick auf die EM 2024 eine neue Chance, könnte aber auch den Blick vernebeln, dass sportlich gesehen Bundestrainer Hansi Flick natürlich die größere Schuld am Scheitern hatte.
Ob Deutschland es schafft, in nicht einmal 18 Monaten ein erneutes Sommermärchen auf die Beine zu stellen? Zurzeit deutet wenig darauf hin. Die eingesetzte Task Force, bestehend aus alten Männern und dem Geschäftsführer einer Brausemarke, nährt eher Zweifel als Hoffnung.
Organisatorisch wird Katar schwer zu toppen sein. Die Prognosen, dass das Chaos ausbrechen könnte, wenn Fanmassen aus aller Welt in einem Land zusammenkommen, das deutlich kleiner ist als Schleswig-Holstein, erwiesen sich als falsch. Es gab kein Chaos, keine Ausschreitungen. Wer vor Ort war, berichtete von einer künstlichen und inszenierten, aber der vielleicht am besten organisierten WM überhaupt.
Die wenigen deutschen Fans, die in Katar vor Ort waren, wurden hierzulande belächelt oder beschimpft. Gleichzeitig freuten wir uns über die Begeisterung Zehntausender Argentinier oder Marokkaner. Nicht alles folgte einer großen Logik.
WM-Schiedsrichter kurios – Messi und Mbappé glänzen
Sportlich war das Niveau insbesondere in der K.o.-Runde besser als bei den letzten Weltmeisterschaften. Wirr wirkte die Neubehandlung der Nachspielzeit, die keiner Stringenz folgte. Während zu Beginn unter den auch insgesamt schwachen Schiedsrichtern ein Überbietungswettbewerb nach dem Motto „Wer hat die längste?“ stattzufinden schien, beruhigte sich dies später merklich.
Diese WM, sie bot große Szenen. Das Schweigen der iranischen Spieler bei der Nationalhymne, deren Umarmungen mit amerikanischen Spielern nach dem Vorrunden-Aus, die Tränen der Brasilianer, das nicht enden wollende Elfmeter-Leid der Engländer, die Demontage von Cristiano Ronaldo, Marokkaner, die ihr Märchen mit ihren Müttern auf dem Rasen feierten und natürlich die großen Shows von Lionel Messi und Kylian Mbappé.
Gianni Infantino irritiert – FIFA-Präsdident lobt „beste WM aller Zeiten“
Diese WM, sie bot absurde Szenen. Die Pressekonferenzen von Gianni Infantino vor der Eröffnung und vor dem Finalwochenende bewiesen, dass der Präsident der FIFA böse, gierig und machtbesessen ist und nicht das geringste Interesse hat, die gegen Europa errichteten Brandmauern abzubauen.
Katars Versuch, mit eingekauften Ultras Stimmung für das eigene, hoffnungslos unterlegene Team aufzubauen, lief dramatisch ins Leere, da sich auf der anderen Seite die zuvor gähnenden Zuschauer weit vor Spielende massenhaft aus den Stadien flüchteten. Es war „die beste WM aller Zeiten“, wusste Infantino schon lange bevor der erste Pfiff ertönt war. Es war „die schlimmste WM aller Zeiten“, wusste die deutsche Öffentlichkeit in einem kritisierenden Überbietungswettbewerb.
Es war eine WM, bei der vieles verwischte, bei der die westliche Welt viel zu spät erwachte und sich dann gnadenlos überschätzte. Es war eine WM, die grelle Scheinwerfer auf ein kleines Land richtete, das diese grellen Scheinwerfer nutzte, um Hochglanzbilder zu erzeugen. Es war eine WM, die keine tiefergehenden Konflikte gelöst hat, aber die die Welt in Teilen vereinen konnte. Katar intensivierte die lange verheerend schlechten Beziehungen zu Saudi-Arabien, die marokkanischen Erfolge schufen ein neues Gefühl der arabischen Solidarität – vom persischen Golf bis zur Atlantikküste.
Katar nutzt WM – FIFA verspielt Sympathien
Katar ist der große Gewinner dieser WM. Der Traum von der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Doha, er lebt nicht nur, er ist größer denn je im Emirat, auf das wir einige Wochen geschaut haben, oft mit einem kontraproduktiven Blick der Arroganz und bisweilen auch mit einer neokolonialen Attitüde, die verhindert hat, dass die dringend benötigten Reformen im Arbeitssektor und bei den Rechten der queeren Community vorankommen.
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Europa und die westliche Welt werden Antworten finden müssen, welche Art des interkulturellen Austauschs richtig ist. Dazu gehört Respekt. Ohne diesen wird es unendlich schwer werden, Menschen von den Vorteilen einer freiheitlichen, demokratischen Ordnung zu überzeugen.
Freiheit und Demokratie, es sind die erstrebenswertesten Ziele. Werden diese erreicht, wäre das auch Gift für die FIFA, die mit dieser WM mehr als vier Milliarden Euro verdient hat, in ihrer jetzigen Form aber eines ganz sicher nicht verdient: Respekt.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels stand geschrieben, dass das Unternehmen Hochtief am Stadionbau in Katar beteiligt war. Dies ist nicht korrekt. Wir bitten, diesen bedauerlichen Fehler zu entschuldigen.