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  • Siegerpose: Oksana Masters feiert den Gewinn eines Sport-Oscars bei den 20. Laureus Awards in Berlin.
  • Foto: imago images/Jan Huebner

Vom Tschernobyl-Opfer zur Mega-Athletin: Die unglaubliche Geschichte der Oksana Masters

Vergessen Sie Lionel Messi und seine Tor-Rekorde! Vergessen Sie Lewis Hamiltons sechs WM-Titel in der Formel 1. Und, ja, vergessen Sie auch Turn-Superstar Simone Biles und ihre 25 Medaillen bei Weltmeisterschaften. Vergessen Sie die Ausnahme-Karrieren dieser Sport-Ikonen, deren historischen Errungenschaften so oft das Etikett „unglaublich“ angeheftet wird. Vergessen Sie’s! Wenigstens für ein paar Minuten. Denn unglaublich ist anders.

Der heimliche Superstar und die beeindruckendste Erscheinung, die bei den 20. Laureus Awards in Berlin mit einem der begehrten Sport-Oscars ausgezeichnet worden ist, hat lange blonde Haare, ein strahlendes Lächeln, keine Beine, nur eine Niere und ein riesengroßes Kämpferherz.

Und sie hat eine Geschichte, so dramatisch und tragisch und bewegend, dass sie tatsächlich kaum zu glauben (aber wahr) und nur schwer zu verdauen ist und niemanden kalt lassen kann.

Laureus Awards: Eine unglaubliche Geschichte

Vom Tschernobyl-Opfer und Waisenkind zur Mega-Athletin, die durch den Sport ihr Glück gefunden hat und deshalb ihren Traum lebt. In einem Leben, das als Albtraum begonnen hatte.

Und dann stand sie auf einmal auf der Bühne der Verti Music Hall, im Rampenlicht, alle Augen auf sie gerichtet, im Publikum unzählige aktuelle und frühere Sportstars, Legenden. In den Händen hielt sie den silbernen Award, den an diesem Abend auch Hamilton, Messi und Biles gewonnen hatten. Standing Ovations.

Lionel Messi, Lewis Hamilton, Simone Biles in den Schatten gestellt

„Oh, mein Gott! Ich zittere so sehr in meinen Beinen, wow“, rief die Frau im bodenlangen schwarzen Glitzerkleid, das die Beinprothesen verdeckte, nicht aber die muskulösen Oberarme, und sie rang sichtlich um Fassung. Sie war überwältigt. Auch im Publikum hatten viele Gäste feuchte Augen.

Es war DER Gänsehautmoment der Laureus-Awards 2020.

Oksana Masters sorgte für den Gänsehautmoment

Oksana Masters heißt die Frau, 30 Jahre alt, US-Amerikanerin. Im vergangenen Jahr hat sie bei der Nordischen Ski-WM für Para-Sportler fünf Goldmedaillen im Ski-Langlauf UND Biathlon sowie den Gesamt-Weltcup im Langlauf gewonnen, dazu noch zwei Silbermedaillen bei der Rad-WM im Handbike.

Oksana Masters hat bei der Nordischen Para-Ski WM 2019 fünf Goldmedaillen abgeräumt - im Langlauf UND Biathlon.

Golden Girl: Oksana Masters hat bei der Nordischen Para-Ski WM 2019 fünf Goldmedaillen abgeräumt – im Langlauf UND Biathlon.

Foto:

imago/ITAR-TASS

Eine wahre Multi-Sportlerin, die auch schon im Rudern Medaillen errungen hat, und in Berlin für ihre außergewöhnlichen Leistungen mit dem Award für die „Sportperson des Jahres mit einer Behinderung geehrt“ wurde.

Laureus Awards: Bewegender Dank an die Adoptiv-Mutter

Mit bebender Stimme wandte sich Masters an ihre Mutter, die im Publikum saß. „Ich danke der wichtigsten Person in meinem Leben. Danke, dass du hier bist. Danke, dass du mich gerettet hast. Danke, dass du mir eine zweite Chance im Leben gegeben hast.“

Das Leben der Oksana Masters ist ein ganz und gar außergewöhnliches.

Am 19. Juni 1989 kommt sie in der ukrainischen Stadt Chmelnyzkyj zur Welt. Mit schweren Fehlbildungen an ihren Beinen und Händen, mit nur einer Niere und ohne Zahnschmelz auf den Zähnen. Die Ärzte führen das auf die Nuklear-Katastrophe von Tschernobyl drei Jahre zuvor zurück.

Oksana Masters litt an den Folgen von Tschernobyl

Die Eltern des kleinen Mädchens sind überfordert, geben Oksana in ein Waisenhaus, wo sie unter schrecklichen Bedingungen aufwächst. Sie wird in ein anderes Waisenhaus verlegt. Und später noch einmal. Völlig entwurzelt.

Sieben Jahre Mangelernährung, Vernachlässigung und Misshandlung, wie sie später erzählen wird. Bis eine alleinstehende Frau aus Amerika, die Universitäts-Professorin Gay Masters, ein Foto der kleinen Oksana in einem Prospekt für Adoptionen sieht und beschließt, sie aus ihrem Elend zu befreien und zu sich nach Buffalo zu holen.

Das Mädchen fühlt sich gut aufgehoben bei der neuen Mutter und in der neuen Umgebung, leidet wachstumsbedingt aber immer stärker unter den Fehlbildungen, hat große Schmerzen. Beide Beine, in denen wichtige stabilisierende Knochen fehlen, müssen oberhalb der Knie amputiert werden, im Alter von neun Jahren das linke, im Alter von 14 das rechte. Zudem muss sie sich mehreren Operationen an ihren Händen unterziehen, damit diese funktionsfähig werden.

Beide Beine müssen amputiert werden

Im Teenageralter entdeckt Oksana den Sport für sich, zunächst Rudern, denn dafür braucht sie keine Beine. Sie hat Talent. Vor allem aber Biss. Mit 17 nimmt sie erstmals an Wettkämpfen teil. Fünf Jahre später gewinnt sie bei den Paralympics in London Bronze. Weil der Rücken Probleme macht, muss die junge Frau das Rudern aufgeben und widmet sich dem Ski-Sport und als Ausgleich im Sommer dem Handbiken. Der Beginn einer sagenhaften Erfolgsgeschichte, die zwei Paralympics-Goldmedaillen in Pyeongchang 2018 als Höhepunkte einschließt.

Oksana Masters bei den Winter-Paralympics in Pyeongchang, wo sie im Langlauf zwei Goldmedaillen gewann.

Oksana Masters bei den Winter-Paralympics in Pyeongchang, wo sie im Langlauf zwei Goldmedaillen gewann.

Foto:

imago/Bildbyran

Oksana Masters ist eine starke Frau, die kein Mitleid will. Ihre Stärke hat sie sich hart erkämpft. Auf dem Wasser, auf der Straße, in der Loipe. „Der Sport hat mir geholfen, mich zu retten“, sagte die vielseitige Athletin, die mit dem Para-Olympioniken Aaron Pike liiert ist, auf der Bühne in Berlin. „Der Sport hat mich darin bestärkt, mich selbst zu lieben. Zu lieben, was ich im Spiegel sehe.“

Oksana Masters‘ starke Worte hauen alle um

In diesen Sekunden waren sowohl Stärke als auch Verletzlichkeit zu spüren. Die Worte und die Wahrhaftigkeit des Moments entwickelten eine unheimliche Wucht. Sie haute die Anwesenden regelrecht um, die zu Beginn der Gala einer recht routinierten Dankes-Rede von Lewis Hamilton gelauscht hatten und Zeuge einer uninspirierten Video-Botschaft von Lionel Messi sowie eines abgeklärten Interviews mit der aus den USA zugeschalteten Simone Biles geworden waren.

Einen Award hätte auch die Mutter von Oksana Masters verdient gehabt, wie Skateboard-Legende Tony Hawk, der die Preisübergabe an die Tochter anmoderiert hatte, völlig zu Recht anmerkte und die Mama entgegen des üblichen Prozeredes kurzerhand auf die Bühne bat.

Der Award für das „Lebenswerk“ der Mama wäre angemessen gewesen, aber der war für Deutschlands Basketball-Ikone Dirk Nowitzki vorgesehen – und das war auch absolut angemessen.

Tony Hawk: Skateboard-Legende holt Adoptiv-Mutter auf die Bühne

Mutter Masters wollte auch gar keinen Preis, sie wollte ihre Tochter in die Arme schließen und dann noch schnell etwas loswerden, aufrichtig, frei von Pathos. „Ich bin unglaublich stolz auf sie und dankbar, dass das, was sie erreicht hat, gewürdigt wird.“ Auf dieser großen Bühne, weltweit gesendet.

Oksana Masters nutzte die Bühne, machte das Beste aus diesem, ihrem Moment, den sie teilen wollte. „An alle Mädchen und Jungs da draußen, die anders sind“, rief sie zum Abschluss voller Leidenschaft ins Mikrofon. „Lasst die Gesellschaft nicht bestimmen, wen ihr zu sehen habt, wenn ihr in den Spiegel schaut. Und lasst nicht andere die Grenzen für Euch setzen!“

Es sind nicht immer die größten Stars, die für die größten Momente sorgen. Man muss nur auch mal anderen eine große Bühne geben. Athleten wie Oksana Masters. Siegerin im Sport – Champion im Leben.

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