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  • 2014 war Timo Schultz (r.) Co-Trainer bei St. Pauli – und Fabian Boll stand vor seinem Abschiedsspiel in Braun-Weiß
  • Foto: imago images/Revierfoto

St. Pauli-Legende Fabian Boll: Darum tut Schultz dem Kiezklub so gut

Arschkalt und ungemütlich ist es immer noch. Aber was Fußball angeht, hat sich verdammt viel verändert seit dem 9. Januar und dem letzten Duell zwischen dem FC St. Pauli und Holstein Kiel, das zugleich das letzte Treffen der langjährigen Freunde Timo Schultz und Fabian Boll war.

Ersterer gewinnt jetzt Spiele am Fließband, Letzterer kann sich vor Spielen kaum retten. In der MOPO spricht Kiels Co-Trainer Boll über Aufstiegskampf, Spielplan-Wahnsinn, seine heftige Corona-Erkrankung und den Höhenflug seines Ex-Klubs unter der Regie von Spezi Schultz, um den er sich zwischenzeitlich Sorgen gemacht hatte.

Spiele-Marathon: Boll hat keine Zeit für Schultz

Es ist nicht so, dass Boll keine große Vorfreude verspüren würde vor dem Duell mit seinem ehemaligen Verein und dem Wiedersehen mit „Schulle“, wie er seinen langjährigen Weggefährten beim FC St. Pauli nennt. „Boller“, wie Schultz ihn nennt, hatte einfach noch keine Zeit. 

Am Dienstagabend stand für Holstein das Nachholspiel gegen Sandhausen auf dem Programm. Erst am Mittwoch rückt an der Förde der Kiezklub in den Fokus, der am Freitag in Kiel gastiert.

Spitzenspiel in Kiel – ganz anders als im Januar

Ein Spitzenspiel. Die beste Rückrunden-Mannschaft der Liga tritt beim Aufstiegsaspiranten an. Für die Kiezkicker ist es das letzte Spiel gegen ein Topteam in dieser Saison, für Kiel die wohl schwerste Aufgabe von jetzt noch fünf zu absolvierenden Partien.

„Beim letzten Aufeinandertreffen sah es für St. Pauli alles andere als rosig aus“, erinnert sich Boll an das Hinspiel am Millerntor (1:1). Die Gastgeber waren damals Vorletzter und zwölf Spiele sieglos, Holstein war Dritter und warf vier Tage später Bayern München aus dem DFB-Pokal.

Die letzten Wochen waren ein Kampf, der seinesgleichen sucht. Gleich zweimal waren die Kieler nach positiven Corona-Fällen in Quarantäne und damit außer Gefecht.

Boll: „Corona hat mich richtig aus den Socken gehauen“

Auch Boll war im März direkt betroffen, stärker als bislang bekannt. „Corona hat mich voll erwischt und richtig aus den Socken gehauen“, erzählt der 41-Jährige. „So schlecht ging es mir seit 30 Jahren nicht mehr.“ Ganz wiederhergestellt ist er nicht, spürt den sogenannten Long-Covid-Effekt. „Ich merke die Nachwirkungen bis heute, bin nach anstrengenden Tagen schlapper.“ 

Anstrengende Tage gibt es derzeit im Übermaß. Die ausgefallenen Spiele haben einen kräftezehrenden Spiele-Marathon zur Folge. Englische Wochen für Holstein. Plural.

Boll hat das „Gefühl für Raum und Zeit“ verloren

„Die Taktung der Spiele ist schon Wahnsinn und extrem herausfordernd“, sagt Boll: „Vor lauter Spielen kommt man kaum zum Trainieren. In den letzten sechs Wochen haben wir nur wenige Tage voll trainiert. Der Rest war Abschlusstraining oder Auslaufen.“

Längst hat der Spielplan aufgrund der Neuansetzungen als Orientierung und Taktgeber des täglichen Lebens ausgedient. „Manchmal vergesse ich, welcher Wochentag ist“, gesteht Boll und fügt schmunzelnd an: „Man könnte fast sagen, dass ich das Gefühl für Zeit und Raum verloren habe.“

Boll zum Corona-Stress in Kiel: „Es gibt wenig Gejammer“

Es spricht für die Moral der Kieler und die Motivationskünste des Trainerteams um Chefcoach Ole Werner, dass sich die Mannschaft nicht unterkriegen und entmutigen lässt. „Gefühlt haben wir in den vergangenen Wochen immer wieder Knüppel zwischen die Beine bekommen, aber wir sind immer wieder aufgestanden und immer noch oben dabei“, sagt Boll. „Es gibt wenig Gejammer und eine hohe Eigenmotivation. Alle haben Bock.“

Ohne die große Aufstiegschance vor Augen wäre die Stimmungslage wohl eine andere, ahnt Boll. Es sei „ein großes Glück“, dass es noch um alles geht. Deshalb haben die Kieler auch die 0:5-Niederlage im Pokal-Halbfinale in Dortmund schnell abgehakt. „Die Motivation und Lust, es in die Bundesliga zu schaffen, ist riesig. Wir wollen das gemeinsam packen.“

Boll glaubt: St. Pauli kann ganz oben mitspielen

Auch den formstarken Kiezklub hält Boll für einen Aufstiegsanwärter – in Zukunft. „In dieser Verfassung ist St. Pauli absolut ein Kandidat, in der kommenden Saison ganz oben mitzuspielen“, betont der Familienvater, der nach wie vor in Hamburg wohnt und pendelt. „Ich kann nur den Hut davor ziehen, in welche Richtung sich St. Pauli entwickelt hat.“

„Schultz kann super mit Menschen, er hat St. Pauli wachgeküsst“

Für Boll ist St. Paulis Höhenflug mehr als nur eine Momentaufnahme, sondern das Resultat der ebenso leidenschaftlichen wie akribischen Arbeit von Schultz. Er hält seinen früheren Mitspieler, zu dem er nach wie vor einen engen Draht hat, für den perfekten Mann für den durchaus komplizierten Job beim Kiezklub. „Schulle kann wirklich super mit Menschen umgehen und versteht den Verein. Er hat alle mit ins Boot geholt“, schildert Boll. Neben dem Trainer-Know-how brauche es diese Authentizität und integrative Kraft. „Schulle hat den Verein in gewisser Weise wachgeküsst und den St. Pauli-Spirit wieder geweckt.“

Zwischenzeitlich hatte sich Boll aber auch Sorgen um seinen Freund und dessen Job-Sicherheit gemacht. „Dass ihm die Situation im Winter zugesetzt hat, war nicht zu übersehen. Der TV-Beweis war eindeutig.“ Moralische Unterstützung am Telefon oder per WhatsApp waren mehr als Ehrensache für ihn. „Ich freue mich sehr, dass St. Pauli im Winter Ruhe bewahrt und Schulle vertraut hat. Das zahlt sich jetzt aus. Seine Arbeit trägt Früchte. Jetzt kann man sehen, was er draufhat.“

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Den Schultz-Effekt beim Kiezklub spürt Boll übrigens auch ganz persönlich, wie er offen zugibt. „Durch Schulle ist mir St. Pauli emotional wieder näher, muss ich ehrlich sagen – außer an zwei Tagen in der Saison!“ Freitag ist einer davon.

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