Die schlimmste WM aller Zeiten: „Wir werden 50.000 Menschen umbringen müssen“
Der Staatschef eröffnet die Weltmeisterschaft „im Zeichen des Friedens“. Über dem Stadion kreisen Militärhubschrauber. Die Wege sind kurz: Nur knapp zwei Kilometer entfernt liegt das Folterzentrum der Machthaber, in dem Menschen zu Hunderten gequält werden. Doch wir sind nicht in Doha, sondern in Buenos Aires, und schreiben den 1. Juni 1978. Bei aller Kritik an den Verhältnissen in Katar ist der Hinweis angebracht, dass das kommende WM-Turnier dann doch nicht „das schlimmste aller Zeiten“ sein wird. Die MOPO erinnert an das Schreckensturnier von 1978.
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Der Staatschef eröffnet die Weltmeisterschaft „im Zeichen des Friedens“. Über dem Stadion kreisen Militärhubschrauber. Die Wege sind kurz: Nur knapp zwei Kilometer entfernt liegt das Folterzentrum der Machthaber, in dem Menschen zu Hunderten gequält werden. Doch wir sind nicht in Doha, sondern in Buenos Aires, und schreiben den 1. Juni 1978. Bei aller Kritik an den Verhältnissen in Katar ist der Hinweis angebracht, dass das kommende WM-Turnier dann doch nicht „das schlimmste aller Zeiten“ sein wird. Die MOPO erinnert an das Schreckensturnier von 1978.
Vor 44 Jahren fand die Endrunde in einer Militärdiktatur statt, die etwa 30.000 Menschen das Leben kostete. Einige Tausend von ihnen „verschwanden“: Sie wurden festgenommen, gefoltert, betäubt und aus Flugzeugen oder Hubschraubern über dem Meer abgeworfen. Die „Madres de Plaza de Mayo“ versammeln sich regelmäßig vor dem Regierungsgebäude, um auf ihre „verschwundenen“ Angehörigen aufmerksam zu machen.
General: „Werden 50.000 Menschen umbringen müssen“
Im März 1976 hatte das Militär in Argentinien die Macht übernommen, es inszenierte sich als brutales Bollwerk gegen den Kommunismus. „Wir werden 50.000 Menschen umbringen müssen“, kündigte General Luciano Menéndez an: „25.000 Terroristen, 20.000 Sympathisanten und wir werden 5.000 Fehler machen.“
Obwohl der weltweite Nachrichtenstrom damals nicht mit den heutigen Verhältnissen vergleichbar ist, war die Situation in Argentinien durchaus bekannt. Amnesty International veröffentlichte die Broschüre „Fußball ja – Folter nein“, fand damit aber nur eine geringe Resonanz. „Fußball und Menschenrechte war 1978 kein Thema für eine breitere Öffentlichkeit“, stellt der Menschenrechts-Anwalt Wolfgang Kaleck fest.
DFB-Präsident Neuberger rüffelte Pfarrer Frenz für Kritik
Der DFB tat sein Übriges, um Diskussionen im Keim zu ersticken. Als der Pfarrer Helmut Frenz in der ARD ein kritisches „Wort zum Sonntag“ zur Lage in Argentinien sprach, protestierte Präsident Hermann Neuberger gegenüber dem Süddeutschen Rundfunk, Frenz handle „an seiner eigentlichen Aufgabe vorbei“. Der amtierende Weltmeister bezog sein Quartier in einem Hotel der Luftwaffe in Ascochinga, schwer bewacht von Soldaten mit Maschinengewehren.
HSV-Torwart Rudi Kargus gehörte zu den DFB-Kickern, die in einer Umfrage des „Stern“ Sympathie für den Amnesty-Protest durchblicken ließ. Auch Sepp Maier und Manfred Burgsmüller äußerten sich zumindest verhalten kritisch. Sie blieben die Ausnahme, während DFB-Chef Neuberger Argentinien als „Partner mit Durchsetzungsvermögen“ würdigte und behauptete: „Die Wende zum Besseren trat mit der Übernahme der Macht durch die Militärs ein.“
Schmidt-Regierung riet Neuberger von Amnesty-Treffen ab
Tatsächlich war der 1992 verstorbene Neuberger offenbar bereit, sich im Vorfeld der WM mit Amnesty-Vertretern zu treffen. Davon riet ihm die von Helmut Schmidt geführte sozialliberale Bundesregierung jedoch ab. Die westdeutsche Politik wollte es sich mit Argentinien, einem zuverlässigen Abnehmer von Rüstungsgütern, offenbar nicht verscherzen. Stattdessen empfing der DFB in seinem Luftwaffen-Quartier Hans-Ulrich Rudel, Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg, nach wie vor überzeugter Nationalsozialist und Berater von damals weit verbreiteten Militärdiktatoren in Südamerika.
„Die öffentliche Diskussion über die WM und die über die Medien geäußerte Kritik an den argentinischen Verhältnissen führten zu keiner Veränderung der bundesdeutschen Argentinienpolitik“, stellt Antje Krüger fest: „Die Wirtschaftsbeziehungen hielten unvermindert an, argentinische Flüchtlinge wurden nicht aufgenommen und nach jedem Argentinienbesuch, egal welcher Partei, hieß es, das Land sei auf dem Weg der Demokratisierung.“
In 44 Jahren hat sich die Gesellschaft verändert und auch ihre Sensibilität für große Sportereignisse. Im Vorfeld der Katar-WM organisierte der DFB einen Vortrag von Wenzel Michalski von Human Rights Watch für seine Nationalspieler und hielt einen Menschenrechtskongress ab. „Die Zusammenarbeit mit Amnesty oder Human Rights Watch fällt nicht vom Himmel, das ist ein steter Austausch“, erklärt DFB-Medienchef Steffen Simon: „Wir haben die Nationalspieler immer wieder ganz bewusst über die Situation in Katar informiert, geben ihnen aber keine Beispielsätze oder Redewendungen vor. Katar hat den Fußball politischer gemacht.“ Deutschland wird wie England und Wales auch mit einer eigenen Fan-Botschaft in Doha vertreten sein.
Russland, Peking, Berlin: Kaum Veränderung durch den Sport
Bleibt die Frage, inwieweit sich der aktuelle WM-Gastgeber wandelt. „Ohne die Weltmeisterschaft wäre der Fortschritt in Katar nicht so weit“, behauptete der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel kürzlich. Dabei gibt es kaum Anhaltspunkte, dass das Scheinwerferlicht einer sportlichen Großveranstaltung düstere politische Verhältnisse tatsächlich nachhaltig aufhellen kann. Nach den Olympischen Spielen in Peking 2008 hat China die Unterdrückung der Uiguren in der Region Xinjiang und die soziale Kontrolle seiner Bürger:innen noch intensiviert. Aus Russland ist nach Olympia 2014 und Fußball-WM 2018 eine kriegführende Nation geworden, in der Oppositionelle scharenweise im Gefängnis landen. Von Hitlers Olympia 1936 in Berlin ganz zu schweigen.
Katar ist mit den genannten Beispielen nur schwer zu vergleichen – aber dass der Sport durch bloßes Vorbeischauen die Verhältnisse zum Besseren wendet, ist eine Idee für Sonntagsreden, in denen Leute wie Ex-FIFA-Boss Sepp Blatter sich dann auch gleich für den Friedensnobelpreis ins Gespräch bringen.
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Als Argentinien am 25. Juni 1978 durch den Finalsieg über die Niederlande Weltmeister wurde, fuhren die Militärs einige Folteropfer durch die Straßen von Buenos Aires, um sie mit dem Anblick feiernder Fanmassen zu demütigen. Das Regime stürzte fünf Jahre später über die schlechte Wirtschaftsentwicklung und den verlorenen Krieg um die Falkland-Inseln. In Argentinien verlief die Aufarbeitung der Militärdiktatur schleppend und ist bis heute ein Thema. Die wichtigsten Vertreter der sieben Jahre von 1976 bis 1983 wurden immerhin vor Gericht gestellt: Heereskommandant Jorge Rafael Videla, der die WM 1978 im Estadio Monumental „im Zeichen des Friedens“ eröffnet hatte, starb 2013 im Gefängnis.