„Wir sind eine Provokation“: Göttlich über Haltung und die Herz-von-St. Pauli-„Hölle“
Als Präsident des FC St. Pauli ist man längst nicht nur rund um die Spieltage gefragt – und die Themen gehen weit über den Fußball hinaus. Für Oke Göttlich nicht nur normal, sondern ein willkommenes Spielfeld. Dass der Kiezklub als Aufsteiger mit seinen proklamierten Werten, gesellschaftlichen und politischen Anliegen zu einer lauten und starken Stimme innerhalb der Bundesliga geworden ist, gefällt nicht jedem. Genau das gefällt aber Göttlich, der Diskussionen anstoßen und austragen will – und verrät, dass sich die emotionale Debatte um die Stadion-Hymne „Das Herz von St. Pauli“ sogar ins eigene Zuhause verlagert hat.
Es waren einige bemerkenswerte Sätze, die der Präsident am Dienstagabend auf der Veranstaltung „Brand Club“ im Mutabor-Auditorium an der Königsstraße in Altona sagte. Thema des inhaltsstarken und zugleich kurzweiligen und bei aller Ernsthaftigkeit oft auch launigen Netzwerk-Events, bei dem Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard der zweite prominente Talk-Gast war: „Marke und Haltung“.
Präsident Oke Göttlich: St. Pauli provoziert – und das gerne
Gerade die klare Haltung des FC St. Pauli zu verschiedenen Themen im Fußball, aber auch in der Gesellschaft, sorge neben Zustimmung auch für reichlich Gegenwind, berichtete Göttlich und brachte es auf den Punkt: „Für viele sind wir eine Provokation – und das sind wir gerne!“ Der 49-Jährige berichtete: „Wenn wir auswärts reisen, dann schreien uns auch Kinder an und bepöbeln uns.“

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Der Kiezklub ist mit seinem offensiven Engagement gegen Rassismus, Antisemitismus und für Diversität eine Zielscheibe. Bei allem klaren Gegen-Positionen sagt Göttlich dennoch: „Wir sind nicht gegen etwas, sondern aktivistisch für etwas.“ Er selbst sagte über sich: „Ich würde mich als Aktivisten bezeichnen – und ich bin auch ganz gerne laut.“ Er gibt aber zu: „Manchmal steht mir meine Impulsivität im Weg.“
Der Kiezklub und der Markenkern: „Ein hoher Anspruch“
Der Kiezklub wolle für Positionen und Werte stehen, aber auch Diskussionen anstoßen und „Prozesse in Gang setzen“, wie Göttlich sagt. Nicht von oben herab verordnet – also aus dem Präsidium oder aus der Marketingsabteilung –, sondern die Impulse kämen aus der Mitgliedschaft. Das sorge für Glaubwürdigkeit der Anliegen, was das wiederum stärke die Marke St. Pauli, wie er betonte.
Etwas pathetisch formulierte er: „Der Markenkern des FC St. Pauli ist das tägliche Ringen, die Welt ein kleines bisschen zum Guten zu verändern. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch für einen kleinen Fußballverein.“
Auf den Fußball bezogen bedeute dies: Kampf gegen die totale Kommerzialisierung und zugleich für eine gerechtere Verteilung der (TV-) Gelder, damit die Schere zwischen den großen und den kleinen Klubs nicht noch weiter auseinandergehe, sondern der Wettbewerb in der Bundesliga attraktiv bleibe.
Probleme wie Bayern und „geisteskranke“ Entwicklungen
Göttlich berichtete von einem Treffen mit Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge rund um St. Paulis Auswärtsspiel bei Bayern München und harmonischen Gesprächen. Zwischen St. Pauli und dem Rekordmeister liegen vor allem wirtschftlich Welten, „aber wir haben auch festgestellt, dass wir die gleichen Probleme haben – Finanzprobleme. Bayern hat das finanzielle Problem, auf europäischer Bühne mit Paris Saint-Germain mitzuhalten, wir haben das Problem, mit Bayern mitzuhalten“.
Zur Entwicklung des Klub-Fußballs auf kontinentaler Ebene mit dem Investoren-getriebenem Wirtschaften sagte Göttlich, der Mitglied des DFL-Präsidiums ist, mehr als deutlich: „Was wir in Europa machen, ist geisteskrank.“ Als Erklärung führte er den US-Profi-Ligen wie NFL oder NBA an, die bei aller Wirtschafts-Orientierung und Gewinn-Maximierung zugleich aber das „sportlich fairste Modell“ mit dem Draft-System haben, bei dem die schlechtesten Teams einer Saison vor der kommenden Spielzeit die besten College-Spieler auswählen dürften. Zudem gebe es die Obergrenze für Kader-Ausgaben. „Und wir in Europa wollen so viel Geld scheffeln wie der Sport in Amerika – aber ohne Regulierung.“ Genau die brauche es aber dringend.
„Herz von St. Pauli“: die Debatte – und die Alternativen
Auch zur Hymnen-Debatte bei seinem Verein, die sich im Februar entzündet hatte, nahm Göttlich auf Nachfrage Stellung. Der Kiezklub hatte den beliebten Stadion-Song „Das Herz von St. Pauli“ abgesetzt, nachdem das St. Pauli-Museum mit unabhängigen Recherchen die tiefen NS-Verstrickungen von Lied-Texter Josef Ollig zu Tage gefördert hatte.
„Die Debatte hat sich hochemotional aufgeladen in ohnehin aufgeladenen Zeiten, kurz vor der Bundestagswahl“, so Göttlich, der das Vorgehen der Vereinsführung verteidigte. Man habe sich mit diversen Gruppen „ausgetauscht“ und für alle „war klar: wir setzen die Hymne aus, bis die wissenschaftliche Dokumentation abgeschlossen ist“.
Die Empörung sei „anfangs sehr hoch gewesen“, habe sich dann aber etwas beruhigt. Auffällig sei die Verteilung der Meinungen. „Zwei Altersgruppen sind besonders betroffen: die über 45-Jährigen und die unter 22-Jährigen“, so Göttlich. Letztere „haben noch nie eine andere Hymne am Millerntor gehört. Und die andere Gruppe ist ganz, ganz lange mit diesem Lied verbunden“. In der Altersgruppe dazwischen sei der Tenor: „Es gab doch auch schon mal andere Hymnen.“
Göttlich verrät: Hymnen-Debatte findet auch zu Hause statt
Was die Hymnen-Lösung für die kommende Saison angeht, zeigt Göttlich die Szenarien auf: „Erstens: Der Song wird nicht mehr gespielt. Zweitens: Der Song wird verändert gespielt. Drittens: Es wird ein anderer Song gespielt. Viertens: Es gibt einen ganz neuen Song – es gibt ja viele Musikerinnen und Musiker im St. Pauli-Kosmos.“ Vielleicht ließe sich da etwas auf die Beine stellen.
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Mit einem Schmunzeln plauderte Göttlich aus dem Nähkästchen und verriet, dass die Hymnen-Debatte auch in den eigenen vier Wänden für Furore sorgt. Was die Entscheidung über das Lied angeht, habe er selbst „keine Präferenz“, aber „ich habe zu Hause die Hölle auszustehen, weil meine Tochter und meine Frau mich bescheuert finden, dass wir das Lied überhaupt ausgesetzt haben“.
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