Große Bilanz von St. Pauli-Boss Göttlich: „Wir hinken unseren Bedingungen hinterher“
17 Punkte, 15. Platz, dazu in der ersten Jahreshälfte der verspielte Bundesliga-Aufstieg – beim FC St. Pauli steht in der WM-Winterpause die Aufarbeitung des ernüchternden Jahres 2022 an. Vereinspräsident Oke Göttlich äußerte sich zu den wichtigsten Themen, die den Kiezklub in den nächsten Wochen beschäftigen werden.
17 Punkte, 15. Platz, dazu in der ersten Jahreshälfte der verspielte Bundesliga-Aufstieg – beim FC St. Pauli steht in der WM-Winterpause die Aufarbeitung des ernüchternden Jahres 2022 an. Vereinspräsident Oke Göttlich äußerte sich zu den wichtigsten Themen, die den Kiezklub in den nächsten Wochen beschäftigen werden.
Der Präsident über …
… die sportliche Bilanz: Dass das, was wir 2022 sportlich anbieten, nicht reicht, ist allen bewusst. Nur mit Klarheit, Widerstandsfähigkeit und Kontroversen kann man in Analysen gehen. Wir gehen absichtsfrei heran: Wir richten uns dabei nicht nach öffentlichen Stimmungen oder Popularität. Es geht einfach darum: Erreichen wir unsere Ziele? Und man muss ganz klar sagen: 2022 haben wir unsere Ziele nicht erreicht. Wir stehen auf dem Tabellenplatz, wo wir auch angefangen haben, mit Timo Schultz zu arbeiten.
… mangelnde Widerstandsfähigkeit: Wir lassen statistisch sehr wenige Torschüsse zu, wir feuern statistisch sehr viele Torschüsse ab – aber die Ergebnisse sind nicht da. Es ist natürlich eine schwierige Analyse, wenn du statistisch einiges richtig machst, eine mannschaftliche Geschlossenheit siehst, aber letztendlich trotzdem die Ergebnisse ausbleiben. Ein Punkt, den wir mit Sicherheit sehr deutlich besprechen werden, ist: Warum tut sich der FC St. Pauli gegen Widerstände so schwer? Gegen Mannschaften, die sehr robust gegen uns agieren. Wir haben sehr, sehr, sehr lange Zeit, nach Rückständen keine Umkehr mehr geschafft. Wir haben sehr, sehr lange auswärts nicht mehr gewonnen. Das sind alles Widerstände, und es hat uns als FC St. Pauli immer ausgezeichnet, zu sagen: Wir sind der FC St. Pauli. Wir sind aktivistisch, wir sind meinungsstark, wir gehen gegen Widerstände vor, ob gesellschaftlich oder auf dem Feld.
St. Paulis Anspruch ist das obere Drittel in Liga zwei
… die eigenen Ansprüche: Es hat zu einer Kontroverse geführt, dass ich im „Kicker” einmal die Ambitionen des FC St. Pauli deutlich gemacht habe. Das Interview bezog sich zu mindestens 51 Prozent auf das Thema: Wo muss der FC St. Pauli eigentlich mit seinen Rahmenbedingungen stehen? Wo muss er stehen mit dem Kader, den er zur Verfügung stellt und auch, was sich im Kader entwickelt hat? Der FC St. Pauli gehört mit seinen Rahmenbedingungen ins obere Drittel der Zweiten Liga. Und wenn das nicht der Fall ist, dann müssen wir hinterfragen, woran das liegt.
… den Analyse-Fahrplan: Es gibt einen zeitlichen Rahmen, weil es für uns spätestens im Januar das Thema gibt: Welche Spieler stünden für uns unter Umständen zur Verfügung? Und finden wir auch andere Themen, die noch relevant sind? Es ist aber nicht so, dass wir morgen eine Entscheidung treffen. Wir nehmen uns in Ruhe die Zeit, alle wichtigen Themen zu besprechen. Die Analyse ist anders als vor zwei Jahren. Damals waren wir mit 14 Punkten 17. mit einem Team, das wirklich rundzuerneuern war. Jetzt sind wir 15. mit drei Punkten mehr, neun Teams sind relativ auf Augenhöhe. Wir haben 13 oder 14 Spiele spielerisch dominiert, aber wir haben die Ergebnisse nicht geholt. Und darin liegt die entscheidende Frage: Wie kann das sein? Was fehlt uns? Es geht auch darum: Wie spielen wir mal nicht netten Fußball und gewinnen mehr Spiele?
Göttlich weist Kritik an Transferpolitik von St. Pauli zurück
… die fehlende Offensivkraft: Wir hätten im Sommer durchaus noch einen Stürmer holen können, aber zu welchem Preis? Und was wäre dann mit Igor Matanovic gewesen? Timo Schultz und Andreas Bornemann haben sich verständigt, alle waren überzeugt: Der kann die 15 Tore schießen. Ich finde, es ist erst einmal der richtige Weg, im Sommer gesagt zu haben: Wir wollen einem Stürmer unserer Jugendabteilung diese Chance geben, der von allen dieses Talent nachgesagt bekommen hat, dass er abschlussstark ist, dass er körperlich groß ist, dass er bei Eintracht Frankfurt untergekommen ist. Und als U21-Nationalspieler vielleicht sogar die Möglichkeit hat, sogar in die A-Nationalmannschaft Kroatiens zu kommen. Und für uns Tore zu schießen. Fakt ist: Igor hat null Tore geschossen und das ist für einen Stürmer seiner Qualität nicht ausreichend – was nicht als Kritik an Igor ausgelegt werden soll. Wir sind von ihm überzeugt und stärken ihm weiter den Rücken. Hätten wir einen weiteren Stürmer geholt, hätten wir darüber sprechen müssen, dass ein Igor uns eventuell verlässt. Im Rückspiegel würde jeder sagen: Na klar, hätten wir Igor einfach verliehen. Im Sommer hätte ich aber den Mutigen gern gesehen, der diese Entscheidung getroffen hätte. Zudem wollten wir Igor behalten, er kommt aus unserer Jugend und wir stehen zu ihm.
… die Rolle von Sportchef Andreas Bornemann: Wir haben einen extrem ambitionierten Sportdirektor, der den Verein im oberen Drittel der Zweiten Liga etablieren möchte. Dabei sind alle angehalten, gerne mitzuhelfen. Wir hinken unseren Rahmenbedingungen hinterher. Was Budgets, wirtschaftlicher Erfolg oder Mitarbeiter:innenanzahl angeht, sind wir mindestens oberes Drittel.
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… gefährliche Genügsamkeit: Wenn du vermeintlich erfolgreich bist, kommt in jedem Verein eine gewisse Genügsamkeit auf. Bei uns ist vielleicht etwas Genügsamkeit nach der erfolgreichen Hinrunde 2021 eingetreten – und aus dieser Genügsamkeit haben wir uns seitdem noch nicht wieder heraus entwickelt. Menschen, die sich mit dieser Genügsamkeit nicht zufriedengeben wollen, werden manchmal als Störer wahrgenommen. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein: Wir sollten diejenigen, die nicht genügsam sind, maßgeblich unterstützen.
… die strategische Ausrichtung: Das Alleinstellungsmerkmal von St. Pauli ist nicht, dass wir der Kultverein sind, wo wir uns alle ständig in Rockerkutten das Astra hinter den Schädel ballern. Unser Alleinstellungsmerkmal ist bereits seit Jahrzehnten, dass wir durch unsere Mitglieder und Fans gesellschaftliche Themen besprechen und vorleben, die zehn oder 15 Jahre später bundesweit nach und nach Eingang finden. Das fängt mit sozialpädagogischen Projekten wie dem Fanladen an, der dann bundesweit zum Standard wurde. Das geht bis zu heutigen Vorgaben zur Nachhaltigkeit bei der Lizenzierung, die in einer Taskforce maßgeblich durch den FC St. Pauli entwickelt wurden. Es geht um Themen vom Gendersternchen bis zu LGBTQI+-Initiativen, die für manche neu und anstrengend sind. Das alles mit dem Kerngeschäft Profifußball zusammenzubringen, ist eine Herausforderung – aber gehört bei uns zusammen. Denn wir müssen aufpassen, dass wir uns auch weiterentwickeln und vorangehen. Jetzt tragen quasi alle den Regenbogen, was sehr positiv ist – wir haben nun die Progress Pride Flagge auf dem Stadion, um für eine noch diversere Queer-Bewegung einzutreten. Was sind die nächsten Punkte, die wir uns setzen? Junge Spieler kommen zu uns, weil sie wissen: Sie kommen in einen haltungsstarken, auch sinnstiftenden Fußballverein – mal abgesehen davon, dass sie hier auch oberes Drittel Zweitliga-Niveau verdienen. Wenn wir diesen sinnstiftenden Erfolg auch auf den Platz bringen, müssten wir im oberen Drittel spielen, mit der Chance, auch mal wieder aufzusteigen.