Meinung: Beunruhigende Gemengelage beim FC St. Pauli
Es ist – das sei eingangs ausdrücklich erwähnt – massiv zu früh, ein finales Urteil zu fällen. Der sportliche Status quo des FC St. Pauli ist dennoch einer, der Sorge bereiten darf. Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur, und man muss auch konstatieren, dass nahezu jede im Vorfeld der Saison befürchtete Problemzone tatsächlich eine geworden ist. Entstanden ist unterm Strich eine beunruhigende Gemengelage.
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Es ist – das sei eingangs ausdrücklich erwähnt – massiv zu früh, ein finales Urteil zu fällen. Der sportliche Status quo des FC St. Pauli ist dennoch einer, der Sorge bereiten darf. Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur, und man muss auch konstatieren, dass nahezu jede im Vorfeld der Saison befürchtete Problemzone tatsächlich eine geworden ist. Entstanden ist unterm Strich eine beunruhigende Gemengelage.
Vieles hat mit Personalentscheidungen zu tun. Mit eben diesen hat Sportchef Andreas Bornemann seit Amtsantritt oft ein hervorragendes Händchen bewiesen. Das Transferfenster des Sommers 2022 wird allerdings nicht in positiver Erinnerung bleiben, jedenfalls nicht kurzfristig.
Das Gerüst ist noch da, aber St. Paulis Mannschaft verlor zwei tragende Säulen
Er wie auch Trainer Timo Schultz weisen gern und mit Recht darauf hin, dass das Gerüst der Mannschaft identisch sei zum Vorjahr. Allerdings sind diesem Gerüst in Daniel-Kofi Kyereh und Guido Burgstaller nicht nur zwei tragende Säulen abhanden gekommen, sondern auch stabilisierender Untergrund. Philipp Ziereis, Sebastian Ohlsson, James Lawrence und Co. mögen jeder für sich genommen sportlich nicht unverzichtbar gewesen sein, die zahlreichen Abgänge aber machten eine komplette Estrich-Neuverlegung in der Kabine notwendig.
Und weil der noch nicht getrocknet oder geglättet ist, hat der aktuelle Kader zwar Perspektive, weist ob der Qualität oder des Entwicklungsstands der Profis aber in der Gegenwart Defizite auf, von denen man trotz des Umbruchs und der massiven Verjüngung gehofft hatte, dass sie nicht zutage treten würden. Drei davon fallen zurzeit gravierend ins Gewicht.
St. Paulis junge Innenverteidigung zahlt viel Lehrgeld
Es war von vornherein ein Wagnis, die Aspekte Routine und Erfahrung bei der Besetzung zu vernachlässigen. 22,6 Jahre sind Jakov Medic, David Nemeth, Betim Fazliji, Adam Dzwigala und Marcel Beifus im Schnitt alt, Medic ist mit 52 Einsätzen der mit Abstand Zweitliga-erfahrenste des Quintetts. Wenn dann Verletzungen hinzukommen (Nemeth, Dzwigala) oder Erstliga-Verlockungen (Medic), ist es nicht verwunderlich, dass das auf tönernen Füßen konstruierte Gebilde massiv ins Wanken gerät. Das Potenzial der Spieler ist unbestritten, der Ist-Zustand aber weit davon entfernt, in naher Zukunft mal Bollwerk genannt werden zu können. Und man kann es den Spielern ob ihrer Altersstruktur überhaupt nicht verübeln.
Der Abgang von Daniel-Kofi Kyereh konnte nicht kompensiert werden
Der Verlust von Daniel-Kofi Kyereh würde heftig ins Kontor schlagen, das war allen klar. Lukas Daschner als verdientem Thronfolger das Vertrauen zu schenken – nur logisch. Der war in der Zeit davor Back-Up für Kyereh – aber wer ist Back-Up für Daschner? Oder gar eine ernsthafte Alternative? Klar, es gibt einige Akteure (Marcel Hartel, Etienne Amenyido, Carlo Boukhalfa), die zentral hinter den Spitzen spielen könnten. Aber eben nur notfalls. Und der Lösungsansatz, Kyerehs individuelle Klasse, Spielwitz und Torgefahr auf mehrere Schultern zu verteilen, ist bislang fehlgeschlagen. Der Bereich Kreativität leidet dadurch entscheidend.
St. Paulis Angriff fehlen die besonderen Skills
Mit Guido Burgstaller gingen Torgefahr und Führungskraft verloren, mit Maximilian Dittgen Geschwindigkeit, mit Simon Makienok Zielspieler-Qualitäten. Stand heute konnte nahezu nichts davon aufgefangen werden. Johannes Eggestein ist ein prima Fußballer, eigentlich der perfekte Partner für einen echten Neuner, den es aber nicht gibt. Igor Matanovic kommt unter der Last der ihm zugedachten Verantwortung plus Anspruch an sich selbst nicht von der Stelle, ist zudem viel zu jung, als dass man ihn mit überhöhten Erwartungen belegen sollte. Etienne Amenyido wird noch eine gewichtige Rolle spielen, ihm fehlt durch die ständigen Verletzungspausen aber noch der Rhythmus. Und David Otto ist eifrig, von speziellen Skills, die einen Stürmer auf unterschiedliche Art wichtig werden lassen, ist bisher allerdings noch nicht wirklich etwas zu erkennen.
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Der Verzicht auf die Verpflichtung eines weiteren neuen Offensivspielers ist einer der Kernvorwürfe, dem sich Bornemann ausgesetzt sieht. Tatsächlich kann man die Frage stellen, ob die Suche nach einem Burgstaller-Ersatz, wenngleich sicher nicht im selben Prominentenregal, nicht seit Frühjahr Prioritätsstufe eins hatte. Da hatte sich der Abgang des Österreichers bereits deutlich abgezeichnet, und es wäre Zeit genug gewesen. Andererseits war der Stürmer-Markt absurd überhitzt. Und Unsummen für einen Christian Kühlwetter (Heidenheim), Maurice Malone (Augsburg) oder einen unbekannten Franzosen namens Aurélien Scheidler auszugeben, nur weil das Geld gerade da ist, hätte vermutlich auch niemanden glücklich gemacht.
St. Paulis Befriedungsversuch ging nach hinten los
Vielleicht wäre es einer besseren Umfeld-Stimmung zuträglich gewesen, das Kind auch beim Namen zu nennen, statt unmittelbar nach Schließung des Transferfensters ein vereinseigenes Interview auf der Homepage zu veröffentlichen, das naturgemäß nicht überbordend viele kritische Fragen zum Inhalt hatte, sondern dem rumorenden Volk signalisieren sollte: Alles tutti, macht euch keinen Kopf! Auch klar zu benennen, dass der Kader keiner ist für kurzfristige Aufstiegsambitionen, wie sie nicht wenige Fans hegen, sondern Zeit für Entwicklung braucht, hätte helfen können.
Dass der HSV jetzt wieder enteilt, schmerzt viele St. Pauli-Fans
Der Schuss ging nach hinten los, befeuerte eher die in der Wahl der Worte bei St. Pauli neuartig aggressive Kritik, die schon länger auf Bornemann, zusehends aber auch auf Schultz niederprasselt. Rund um den Klub hat sich eine destruktive Atmosphäre breit gemacht, basierend auf dem sportlichen Niedergang der letzten Rückserie, der Unruhe rund um nahezu alle im Sommer geschiedenen Spieler, den Zweifeln an der Qualität des aktuellen Aufgebots. Dass St. Pauli die große und vielleicht einmalige Chance vergeigt hat, eine zu Beginn des Jahres noch realistisch erscheinende sportliche Wachablösung in der stadtinternen Hierarchie hinzubekommen, hat ebenfalls Narben hinterlassen. Stattdessen müssen die Fans mitansehen, wie sich der HSV mit Dauerblinker auf der Überholspur immer weiter entfernt.
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Auch wenn es von der tabellarischen Dramatik her himmelweite Unterschiede gibt, erinnert die Situation an den Januar 2021. Damals präsentierten sich Bornemann, Schultz und Boss Oke Göttlich als Einheit und schafften es, den Kahn auf beeindruckende Weise wieder auf Kurs zu bringen. Es ist an den Verantwortlichen, eine Wiederholung herbeizuführen.