„So ein Holzfuß“: Experten staunen über St. Pauli
Erfrischender Fußball, Spielfreude, Torhunger, Herbstmeister – beileibe nicht nur außerhalb Hamburgs erfreut man sich zurzeit an den Leistungen der Mannen von Trainer Timo Schultz. Auch Menschen, die teils schon seit mehreren Dekaden emotional oder beruflich eng mit dem Kiezklub verbunden sind, wundern sich einerseits über das Ausmaß des Fortschritts, genießen aber vor allem den Moment mit Vorfreude auf die Zukunft.
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Erfrischender Fußball, Spielfreude, Torhunger, Herbstmeister – beileibe nicht nur außerhalb Hamburgs erfreut man sich zurzeit an den Leistungen der Mannen von Trainer Timo Schultz. Auch Menschen, die teils schon seit mehreren Dekaden emotional oder beruflich eng mit dem Kiezklub verbunden sind, wundern sich einerseits über das Ausmaß des Fortschritts, genießen aber vor allem den Moment mit Vorfreude auf die Zukunft.
Ein Aufstieg in die Bundesliga, das ist bei allen auffällig, wird dabei mitnichten als bereits vermeintlich bevorstehend oder als zwingend notwendig betrachtet. Es ist eben erst die Hälfte der Saison absolviert.
„Ich erlebe unsere Mannschaft in diesem Jahr völlig neu“
„Ich sitze seit über 12 Jahren am Millerntor und habe so gut wie kein Spiel verpasst“, sagt Sven Flohr (47, Radiomoderator, Buchautor und Partner von Jan-Philipp Kalla beim Benefiz-Projekt Friends Cup). „Ich habe auf der Tribüne gezittert, gehofft, geflucht und auch manchmal geweint. In diesem Jahr erlebe ich unsere Mannschaft völlig neu. Wir haben gefeiert, gelacht und uns gefreut über die enorme sportliche Entwicklung und den Spirit, den dieses Team mitbringt. Ich bin begeistert vom Sportsgeist, von der Willensstärke, und was mich besonders beeindruckt: Wir spielen Fußball, und das über beide Halbzeiten! Vor dem, was Timo Schultz und sein Team in den letzten Monaten erreicht haben, ziehe ich meinen Hut und schaue erwartungsvoll in die Zukunft.“
„Ich finde das Experiment mit dem jungen Trainer-Team super spannend“
Bereits seit 2004 ist Wolf Schmidt (56) als Reporter für Menschen mit Sehbehinderung bei den Spielen dabei und zudem Trainer der Blindenfußballer, die jüngst Deutscher Meister wurden. „Viele Jahre lang haben wir gesehen, wie ein Spieler mit Ball in den Bereich eines Mitspielers dribbelte, bis aus zehn Feldspielern nur noch neun wurden. Das sieht man aktuell fast gar nicht mehr, und die gute Spielstruktur löst angenehme Vorstellungen von Erstliga-Fußball aus. Man sieht, dass da was sehr gut funktioniert. Nicht nur ein Aspekt, sondern sehr viele. Es ist ein gutes Orchester, vom Dirigenten bis hin zu dem, der die Blechbläser reinigt. Ich finde das Experiment mit diesem jungen Trainer-Team super spannend, es hätte ja auch komplett nach hinten losgehen können. Jetzt aber hat man den Eindruck, dass alle Spieler besser gemacht werden und dass bei solchen, die limitierte Mittel haben, genau die Skills herausgekitzelt werden, die die Mannschaft nach vorne bringen. Und dass ein Guido Burgstaller noch mal so eine Maschine wird, ist einfach klasse.“
„Eine positive Entwicklung war zu erwarten, wenn auch nicht in diesem Ausmaß“
„Die aktuelle Entwicklung ist Ergebnis dessen, dass Trainer und Sportchef am Tiefpunkt vor knapp einem Jahr den Mut hatten, unpopuläre Maßnahmen im Sinne der Sache zu treffen und dabei die komplette Rückendeckung von Präsident Oke Göttlich hatten“, befindet Sebastian Wolff. Der 45-Jährige berichtet seit 20 Jahren für das Fachmagazin „Kicker“ von St. Pauli und dem HSV. „Eine grundsätzlich positive Entwicklung war deswegen erwartbar, wenn auch sicher nicht in diesem Ausmaß.“
„Langer Hafer und beten war vorgestern“
Er reiste als Fan quer durch die Lande, war Redakteur beim Fanzine „Übersteiger“, arbeitete in der FCSP-Pressestelle, ist Mitbegründer von „Ballkult e.V.“ war lange Sportchef bei Spiegel Online. „Was mir besonders imponiert“, sagt Mike Glindmeier (43), der in zwischen von der Haupttribüne aus mitfiebert, „ist die Spielweise unter Timo Schultz. Die Mannschaft versucht, jede, aber auch wirklich jede Situation spielerisch zu lösen. Langer Hafer und beten war vorgestern. Dazu kommen außergewöhnlich starke Spieler wie Kyereh, Hartel oder Paqarada und echte Typen wie Burgstaller, Medic oder Vasilj. Es macht einfach unheimlich viel Spaß gerade, Fan dieser Mannschaft zu sein. Gegen einen Aufstieg hätte ich folglich nichts einzuwenden, zumal dann ein Platz weniger für den anderen Hamburger Verein bliebe …“
„Es macht einfach Spaß, den Jungs zuzuschauen“
„Ich verfolge weiterhin möglichst alle Spiele, ich habe ja auch noch Kontakt zu einigen ehemaligen Mitspielern“, erklärt St. Paulis ehemaliger Profi Johannes Flum, der wieder in der Heimat beim SC Freiburg II aktiv ist und am Dienstag seinen 34. Geburtstag feiert. „Vor allem die Kicks am Millerntor sehe ich gerne, hoffentlich bald mal wieder live vor Ort. Es macht einfach Spaß, den Jungs zuzuschauen. Aus eigener Erfahrung aber kann ich sagen: Im Erfolg macht man die größten Fehler. St. Pauli darf im Winter nichts Verrücktes in Sachen Personal andenken, der Kader ist qualitativ bestens aufgestellt. Aber sie dürfen in Zukunft eben auch nicht weniger machen als bisher. Ich bin allerdings komplett davon überzeugt, dass Timo Schultz diesbezüglich das richtige Händchen haben wird.“
„Dass so ein Holzfuß mal so einen tollen Fußball spielen lässt …“
Einige Jahre spielte Ralph Gunesch mit Timo Schultz gemeinsam für den FC St. Pauli, beide lernten sich schätzen. Mittlerweile ist der 38-Jährige Experte beim Streaming-Dienst DAZN und staunt: „Dass so ein Holzfuß mal so einen tollen Fußball spielen lässt … Hut ab! Nein, im Ernst, es ist schon sehr, sehr moderner Sport, den St. Pauli zeigt. Die grundsätzliche Tendenz in der Entwicklung überrascht mich nicht, die hatte ich Schulle zugetraut, wenn man ihm Zeit gibt. Aber das Ausmaß war in der Form nicht abzusehen. Wobei: Gewonnen ist noch nichts, die Voraussetzungen aber sind hervorragend. Die nahe Zukunft ist dabei entscheidender als das, was im April oder Mai kommen wird. Es klingt blöd, aber du musst halt immer das nächste Spiel gewinnen, also jetzt Kiel und im ersten Spiel 2022 Aue. Aber das werden die handelnden Personen im Verein alle selbst wissen.“