48 Jahre Warten auf eine Dauerkarte: So will St. Pauli neue Fans ins Stadion lassen
Fußball-Deutschland diskutiert über den spektakulären Plan von Fortuna Düsseldorf, künftig Fans kostenlos ins Stadion zu lassen, finanziert von Sponsoren. Motto: „Fortuna für alle“. Ist revolutionär und klingt großzügig, hat aber den Hintergrund, dass die Arena des Zweitligisten oft nur halb voll ist. Not macht erfinderisch. Ganz anders sieht es beim FC St. Pauli aus.
Fußball-Deutschland diskutiert über den spektakulären Plan von Fortuna Düsseldorf, künftig Fans kostenlos ins Stadion zu lassen, finanziert von Sponsoren. Motto: „Fortuna für alle“. Ist revolutionär und klingt großzügig, hat aber den Hintergrund, dass die Arena des Zweitligisten oft nur halb voll ist. Not macht erfinderisch. Ganz anders sieht es beim FC St. Pauli aus.
Das Millerntor ist fast immer ausverkauft. Mehr noch: In den vergangenen Monaten ist das Stadion auf dem Kiez zur geschlossenen Gesellschaft geworden. Wer nicht Mitglied ist, kommt nicht rein. Einen freien Ticketverkauf gibt es nicht. Dauerkarten werden wie Schätze gehütet, die Warteliste quillt über. Ein Luxus-Problem – aber eben ein Problem, das sich verschärft. Der Verein will handeln. Es geht auch um die Zukunft.
Das Millerntor ist zu 99 Prozent ausgelastet
Wenn die Kiezkicker am Samstag gegen Bielefeld nach zwei Niederlagen in Serie, Derby inklusive, um ihren elften Sieg des Jahres und ein ersehntes Erfolgserlebnis spielen und kämpfen, können sie sich wie immer der vollen Unterstützung sicher sein. Betonung auf voll. Das Millerntorstadion wird mit knapp 30.000 Menschen wieder prall gefüllt sein, der Heimbereich wie immer ausverkauft.
Mit 99 Prozent Auslastung – Bestwert in Liga zwei – gehört das Stadion des Kiezklubs (29.546 Plätze) auch in dieser Saison wieder zu den erfolgreichsten Spielstätten Deutschlands.
„Es ist toll, dass die Hütte immer voll ist“, sagt Präsident Oke Göttlich im exklusiven Gespräch mit der MOPO. Der Verein freue sich „riesig“ über ein regelmäßig ausverkauftes Millerntor und dass „so viele Menschen unserer Mannschaft beim Fußballspielen zuschauen wollen. Das ist schön für die Spieler und gleichzeitig wichtig für unseren Verein.“
Kein Ticket für St. Pauli: Frust bei vielen Fans
Unschön ist es für die vielen Fans und Personen, die ins Stadion wollen, aber kein Ticket bekommen. Wieder und wieder und wieder. Das sorgt für Frust.
Das Problem: Es gibt seit Wochen keinen sogenannten freien Verkauf. Nur Mitglieder des FC St. Pauli kommen auf offiziellem Weg an Karten, denn auch der vereinseigene Ticket-Zweitmarkt, auf dem nach Vereinsangaben pro Spieltag bis zu 2500 Karten den Besitzer wechseln, gilt derzeit aufgrund der immensen Nachfrage nur für Mitglieder.
Für die Partie gegen Bielefeld und die finalen Heimspiele der Saison gegen Düsseldorf und Karlsruhe wird im Online-Ticket-Shop vermeldet: „Alle verfügbaren Tickets wurden von den Mitgliedern gekauft.“ Das geht schon seit Wochen so und galt auch für die Heimspiele gegen Braunschweig, Rostock oder Kaiserslautern.
St. Pauli für alle? Das ist derzeit illusorisch
Etwa 22.500 Plätze sind ohnehin belegt durch Dauerkarten (15.500), rund 4500 Saisonpakete und Hospitality-Plätze (2500).
Geschlossene Gesellschaft am Millerntor also. Zementierte Verhältnisse auf den Tribünen. Eine Art „Closed Shop“ auf den Rängen.
„Das ist ein Thema bei uns“, bestätigt Göttlich. Nach MOPO-Informationen eines von hoher Wichtigkeit. „Wir sind uns bewusst, dass die Nachfrage nach Karten für Heimspiele das Angebot regelmäßig übersteigt.“ Es ist das Gegenteil des Fortuna-Problems. Im Düsseldorfer Stadion (54.600 Plätze) ist bei einem Zuschauerschnitt von aktuell 29.378 bei Heimspielen oft viel Platz, Tickets gibt es reichlich.
St. Pauli für alle? Das ist derzeit illusorisch. Selbst wenn alle zahlen.
Kein Platz im Stadion: St. Pauli droht, den Fan-Nachwuchs zu verlieren
Um die braun-weiße Lage mit Zahlen zu veranschaulichen: Das Millerntor hat wie schon erwähnt 29.546 Plätze und der FC St. Pauli 35.000 Mitglieder – Tendenz seit Jahren steigend. Die Folgen liegen auf der Hand. Nicht-Mitglieder haben es immer schwerer, ins Stadion zu kommen – oder müssen bei nicht autorisierten Drittanbietern Wucherpreise zahlen und riskieren, dass die Karten vom Verein gesperrt werden. Wer wenig Geld hat, der hat auch auf diesem Umweg keine Chance, St. Pauli live zu sehen.
Selbst schuld, wer kein Mitglied ist? So einfach ist das nicht. Und zu kurz gedacht.
Es geht um die Fans und Mitglieder von morgen, darum, Menschen neu für St. Pauli und Live-Fußball im Stadion zu begeistern. Das gilt übrigens für alle Vereine. Göttlich spricht von einem „Zukunftsthema“. Nur: Der Kiezklub gehört zu denen, die dabei kaum Spielraum haben. Verliert er den potenziellen Fan-Nachwuchs in Hamburg? Gar an den Lokalrivalen?
Das sagt St. Pauli-Präsident Göttlich zum Zuschauer-Problem
St. Pauli will die geschlossene Gesellschaft öffnen. „Wir machen uns Gedanken, wie wir es hinbekommen, dass gerade auch jüngere Leute und Generationen ins Stadion kommen können“, sagt Göttlich, will dies in Zeiten reflexartiger Empörung aber ausdrücklich nicht als Altersdiskriminierung verstanden wissen. „Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass wir unsere treuen Fans, langjährige Dauerkartenkunden und Mitglieder nicht wertschätzen – ganz im Gegenteil –, sondern dass wir das Stadionerlebnis auch Menschen ermöglichen wollen, die noch nie bei uns waren.“
Die Dauerkarten-Situation macht das Unterfangen nicht einfacher. Dauerkarten sind das braun-weiße Gold, werden gehütet wie ein Familien-Schatz und immer wieder verlängert. Verständlich.
Nur rund 100 der Dauerkarten werden nach Vereinsangaben pro Jahr zurückgegeben. Das sind 0,6 Prozent.
Flapsig formuliert: Wer eine Dauerkarte zurückgibt, ist entweder weggezogen, verstorben oder schön blöd.
Wer nicht St. Pauli-Mitglied ist, muss mindestens 48 Jahre auf eine Dauerkarte warten
Die 100 Glücklichen, die eine der freigewordenen Dauerkarten bekommen, haben viele Jahre darauf gewartet – auf der längst legendären Warteliste. 12.300 Bewerberinnen und Bewerber stehen aktuell drauf. Fun Fact: Diese Zahl ist höher als der Zuschauerschnitt von sechs Zweitliga-Konkurrenten, also einem Drittel der Liga.
Die Warteliste ist ebenfalls ein kompliziertes Thema, denn der aktuelle Schlüssel für ein vorderes Ranking belohnt langjährige Mitgliedschaft und den mehrfachen Erwerb von Saisonabos. Das System, bei dem Treue (und Geduld!) belohnt werden, ist nachvollziehbar und fair, aber es verstärkt eben auch den Status quo.
Auch bei der Warteliste gilt: Nicht-Mitglieder sind chancenlos. Für sie bleiben aktuell die Plätze 4800 bis 12.300. Die Nicht-Mitglieder müssen hochgerechnet mindestens 48 Jahre auf eine Dauerkarte warten, viele von ihnen auf ein sehr langes Leben oder medizinische Revolutionen hoffen. Neu-Mitglieder ohne Saisonabo kommen dagegen schon nach drei Jahrzehnten in den Genuss einer Dauerkarte.
Anfang des Jahres hat der Verein die Liste erst einmal geschlossen und prüft sie. „Wir werden uns die Warteliste für Dauerkarten anschauen und möglicherweise modifizieren“, sagt Göttlich.
Ein weiterer Stadionausbau ist für den FC St. Pauli kaum möglich
Das Thema Kartenvergabe und Publikumsentwicklung sei „hochkomplex“, so der Präsident. Und heikel. Eine „stärkere Fluktuation“ hinzubekommen, wie es der Verein anstrebt, wird nur über andere Verteilungsmodelle als bisher funktionieren.
Ein Düsseldorfer Gratis-Modell ist für St. Pauli auch deshalb kaum vorstellbar, weil die nötige Sponsorenbeteiligung ein hochkommerzialisiertes Event bedeuten würde. Das Gegenteil von dem, wofür der Kiezklub steht und was der Großteil der Fans am Millerntor wünscht.
Ein Ausbau des Stadions ist ebenfalls keine (kurz- und mittelfristige) Lösung des Problems. „Das ist aktuell nicht geplant“, stellt Göttlich gegenüber der MOPO klar und schränkt zudem ein: „Machbar wäre ohnehin nur die Ecke zwischen Haupt- und Nordtribüne.“ Sie könnte zugebaut werden und zusätzliche Plätze bieten. Das große Aber: „Es wäre ein weiteres großes Bauvorhaben neben unserem zukunftsweisenden NLZ-Projekt“, weist Göttlich auf das rund 30 Millionen Euro teure Bauvorhaben an der Kollaustraße hin. „Das ist für den FC St. Pauli gleichzeitig nicht zu stemmen.“
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Was kommen wird, ist eine Preiserhöhung zur Spielzeit 2023/24. „Wir müssen in der kommenden Saison einen Tick teurer werden bei den Dauerkarten“, kündigt Göttlich an. „Wir sind dazu gezwungen, weil uns die Kosten sonst weglaufen. Strom oder Ordner – alles wird teurer.“
Auch St. Pauli. Der Nachfrage wird es keinen Abbruch tun.