The 1975 in Hamburg: Bühnensex, Softrock und ganz großes Kino
Es ist acht Jahre her, dass The 1975 zuletzt in Hamburg spielten. Damals hatten die Briten gerade ihre zweite Platte veröffentlicht, mittlerweile haben sie das fünfte UK-Nummer-Eins-Album schon überdauert, weshalb ihre aktuelle Tour sie am Dienstag unter dem etwas ironisch klingenden Motto „The 1975 – Still… at their very best“ in die Barclays Arena führte. Der Titel war Programm ...
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Es ist acht Jahre her, dass The 1975 zuletzt in Hamburg spielten. Damals hatten die Briten gerade ihre zweite Platte veröffentlicht, mittlerweile haben sie das fünfte UK-Nummer-Eins-Album schon überdauert, weshalb ihre aktuelle Tour sie am Dienstag unter dem etwas ironisch klingenden Motto „The 1975 – Still… at their very best“ in die Barclays Arena führte. Der Titel war Programm …
Allein für das Stagedesign hatte sich das Warten schon gelohnt: Die Innenansicht eines zweistöckigen Hauses offenbart sich vor den Augen der Zuschauer, als um 20.30 Uhr der Vorhang fällt. Sessel, ein Sofa, Stehlampen, eine Schrankwand, eine Wendeltreppe nach oben, acht Fernsehbildschirme – ganz schön gemütlich sieht die Butze von The 1975 aus!
The 1975 in Hamburg: Flotter Start zur Wohnzimmershow
Nach und nach ziehen die acht Bandmitglieder ein und knipsen die Lichter an; zwei Kameramänner fangen ihr Treiben auf der Bühne hautnah ein. Matt Healy (34), nicht skandalfreier Frontmann der Band, nimmt mit Kippe im Mund und silbernem Flachmann in der Hand hinter seinem Keyboard Platz. Die flotte Eröffnungsnummer „Looking For Somebody (To Love)“ mutet nicht so flauschig an wie der Teppich, auf dem Healy seine Füße bettet, ist aber immer noch gefällig genug, um The 1975 als Meister des Softrocks zu krönen.
Seine immer etwas verträumt wirkenden Vocals klingen wie nichts anderes auf der Welt. Mit dem zweiten Song „Happiness“ verströmt die Band Endorphine satt: Healy macht es sich in einem der Sitzmöbel gemütlich. Saxophonist John Waugh garniert den Song mit seinem Spiel im Schatten. Meine Güte, klingen The 1975 gut! Die weichen Melodiebögen ihrer perfekt arrangierten Stücke sind echte Ohrschmeichler. Kein Wunder, dass sich The 1975 längst zu einer der wichtigsten Bands der britischen Insel gemausert haben.
The 1975 in Hamburg: Set bestand aus zwei Teilen
Ihr Set besteht aus zwei Teilen: einem leicht durchchoreografierten Show-Act und einem ausgelassenen Konzert. Im ersten Teil fühlt man sich wie der Gast im Film von The 1975. Wenn Healy zu „A Change Of Heart“ im ersten Stock das Fenster Richtung Backstage öffnet und man ihm auf den Leinwänden links und rechts neben der Bühne beim Aus-dem-Fenster-Schauen zusehen kann, hat das was von Kino. Wodka oder Wasser? Das fragt man sich, als er eine Buddel öffnet. Wir vermuten erstes und hoffen auf letzteres, schließlich ist sein früherer Missbrauch einiger Substanzen hinreichend dokumentiert.
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Sowieso hat der sonst so kluge Healy immer etwas von einem kaputten, taumelnden Typen, was seine jungen Fans allerdings nicht davon abhält, ihn anzuschmachten. Fernab der Musik tut Healy allerdings gar nicht so viel, um ihnen zu gefallen. Das „Rolling Stone“-Magazin bezeichnete ihn als „Sprachrohr der Millennial-Generation“. Zwei Mädchen in Bikini-Oberteilen aus der ersten Reihe haben sich die Songtitel auf die Brüste geschrieben, bemerkt Healy ganz cool.
Zu „Robbers“ strahlen die Stehlampen in rotem Licht. Die Fans hängen Healy an den Lippen und singen jedes Wort mit. „Wie fühlt ihr euch?“, fragt er in den Saal und erntet Jubel. Dann wird es langsam ungemütlich. Menschen in weißen Kitteln entfernen alles Kuschelige des Inventars. Die Band verzieht sich, und Healy spielt „Be My Mistake“ als Solo auf der Akustikklampfe. Ein intimer Moment. Das Publikum klatscht den Rhythmus. Aber Healy ist kein People-Pleaser: „Das ist ein wirklich trauriger Song“, unterbricht er. „Wenn ihr in dieses besondere Lied hineinklatscht, fühlt es sich immer sarkastisch an.“ Dann äfft er das Klatschen nach. „Es ist lächerlich, das zu tun.“ Ehrliche Worte eines ehrlichen Künstlers. Die Fans lachen und jubeln wohl aus Verlegenheit. Wir sind eben nur Gäste in der Welt von Matt Healy.
Mit Haut und Haaren vom Fernseher verschluckt
Von Naturkatastrophen bis zu Kriegstoten – schlimmste TV-Nachrichten flackern über die Bildschirme. Am Ende des Show-Akts wird Healy von den Nachrichten konsumiert und mit Haut und Haaren von einem der Fernseher verschluckt. Es symbolisiert, wie wir alle uns angesichts der aktuellen Nachrichtenlage fühlen. Und trotzdem sagt der News-Mann am Ende: „Matt Healy ist vermutlich die Person, über die am meisten gesprochen wird aufgrund seiner seltsamen, faszinierenden Stage-Performance.“
Mit dem Konzertteil des Abends geht die Party richtig los. „Ladies und Gentlemen, you are watching The 1975, still at their very best“, meint Healy nach seiner Rückkehr auf die Bühne und präsentiert mit der Band die Hits, die wie ihre verträumte Interpretation des Pop-Rock der Achtzigerjahre rüberkommt. Die ganze Arena hüpft zu „The Sounds“ und schwelgt zu „Somebody Else“. Und Healy wird immer lustiger. „‚Ich hatte Sex zu deinen Songs‘, steht auf dem Schild dort“, merkt er an und führt aus: „Ich auch! Ich mache eigentlich nichts anderes. Nichts wie ran und voller Augenkontakt.“ Dann summt Healy eine Zeile ihres größten Hits „Chocolate“ aus frühen Bandtagen, den sie an diesem Abend gar nicht spielen.
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„Wenn ihr Sextipps von mir wollt: kein Einsatz der Hüfte! Das ist mein Tipp an alle Typen.“ Healy macht seine Art des Liebesspiels auf dem Bühnenboden als Trockenübung gleich mal vor. Die Meute lacht. Wie passend, dass The 1975 als vorletzten Song das rockige „Sex“ spielen. Ein grandioser Abend. Und bitte bald mehr davon.