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Rony Othmann sitzt auf dem Boden und schaut in die Kamera
  • Die preisgekrönte Schriftstellerin Ronya Othmann (31) ist Tochter eines jesidisch-kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter.
  • Foto: Paula Winkler

Zeugnis eines Genozids: Ronya Othmann beschreibt das Unsagbare – und liest in Hamburg

Wie kann man das Grauen darstellen? Ronya Othmann hat es gewagt: In ihrem gerade erschienenen Roman „Vierundsiebzig“ schildert sie, was am 3. August 2014  in der nordirakischen Region Shingal geschehen ist. Damals überfiel der IS  das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden, Tausende Menschen wurden ermordet. Die Vereinten Nationen stuften das Massenverbrechen als Genozid ein – es ist der 74. in der Geschichte der Jesiden seit dem 15. Jahrhundert. Othmann (31) hat Familie dort. Zusammen mit ihrem Vater reiste sie in das Gebiet. Am 16. April liest sie  im Literaturhaus.

MOPO: Sie schreiben über den August 2014 und darüber, wie Sie auf dem Bildschirm sehen, dass Menschen, die Ihre Familie sein könnten, vom IS verfolgt, verschleppt, gefoltert, ermordet werden. Wann war Ihnen klar, dass Sie diesen Völkermord an den Jesiden journalistisch-literarisch aufbereiten wollen – und dass Sie dafür auch mit Überlebenden sprechen müssen?
Ronya Othmann: Wenn so etwas passiert wie ein Genozid an der Gruppe, zu der man auch gehört – mein Vater ist Jeside, meine Mutter Deutsche –, dann ändert sich etwas Grundlegendes. Die Welt war nach dem 3. August 2014 nicht mehr die Welt, die sie davor gewesen ist. Es war ein Schock, obwohl Schock nicht das richtige Wort dafür ist. Es war unbegreiflich. Darüber zu schreiben war weniger eine Entscheidung, es hat sich mir aufgedrängt.

Ronya Othmann: „Unsere Sprache ist nicht gemacht für Verbrechen dieser Art“

Sie lassen in Ihrem Buch Menschen zu Wort kommen, die Unbegreifliches erleben mussten. Kann man da Distanz wahren, sich „schützen“?
Ich glaube, in gewisser Weise ist es unmöglich, Distanz zu wahren und gleichzeitig darüber zu schreiben. Einerseits fehlt mir durch meine jesidische Herkunft der Abstand. Denn dieser Genozid wurde ja an einer Gruppe verübt, zu der auch ich gehöre. Andererseits lebe ich in Deutschland. 2014 war ich, anders als die Menschen im Shingal, in Sicherheit. Ich denke oft an die Menschen, an das Unvorstellbare, was sie erlitten haben und worunter sie bis heute leiden. Aber die Verbrechen des IS sind keine Naturkatastrophe. Sie sind menschengemacht – auch wenn man sich das kaum vorstellen kann. Ebenso das Versagen aller anderen Kräfte, dass dafür sorgte, dass die Jesiden am 3. August 2014 schutzlos waren und dass weitere Versagen nun nachdem der IS militärisch besiegt ist. Shingal wird heute von Milizen kontrolliert, es gibt türkische Drohnenangriffe und immer noch sind Sprengfallen nicht geräumt. Ich will das die Jesiden zu ihrem Recht kommen. Dass sie eine Zukunft haben, auch in ihrem Herkunftsgebiet. Dass die Täter vor Gericht kommen und sich für ihre Taten verantworten müssen. Das ist bis jetzt nämlich kaum geschehen.

Es muss ein unglaublicher Druck sein, das mitteilen zu wollen, dafür aber eben keine Worte zu haben. Wie haben Sie das ausgehalten?
Ja, ich bin Zeugin von etwas geworden und mit der Zeugenschaft geht eine Verpflichtung einher. Fast wie vor Gericht. Sie müssen aussagen, so hat sich das für mich dargestellt. Ich habe versucht, nach der oder einer Wahrheit zu suchen. Ein wenig wie einen Gerichtsprozess abzuhalten  auf Papier. Vor Gericht sucht man ja auch immer die Wahrheit. Man befragt Zeugen, man befragt Quellen, zieht Beweise heran, zieht Sachverständige zurate.

Wie haben Sie gemerkt, dass das Schreiben – „Sätze, Worte, die abbrechen, im Nichts verlaufen“, wie Sie im Buch sagen – für Sie der einzige Weg war, sich dem Thema zu nähern?
Die Form, die Sprache, ergab sich aus dem, worüber ich schrieb, aus meinem „Thema“, dem Genozid. Ich denke, unsere Sprache ist nicht gemacht für Verbrechen dieser Art. Außerdem gibt es kein Ende, und das gibt es bis heute nicht. Der Genozid ist nicht vorbei. Mir wurde das allmählich bewusst, während ich schrieb. Im Grunde ist der ganze Roman ein einziges Scheitern. Ein Scheitern am Versuch etwas zu verstehen, was nicht zu begreifen, etwas zu erzählen, wofür es keine Sprache gibt.

Ronya Othmann liest im Literaturhaus aus ihrem Buch

Was würden Sie Menschen empfehlen, die sich noch tiefer mit dem Thema auseinandersetzen wollen?
Es gibt Bücher von Überlebenden des Genozids, von Nadia Murad „Ich bin eure Stimme“, von Farhad Alsilo „Der Tag an dem meine Kindheit endete“ oder Jihan Alomars „Dankbarkeit – die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Es gibt auch eine Reihe von Dokumentarfilmen, beispielsweise „Sabaya“ von Hogir Hirori, „Die Engel von Sinjar“ von Hana Polak, „Hawar, Our Banished Children“ von Pascale Bourgaux und Mohammad Shaikhow oder „Imad’s Childhood“ von Zahavi Sanjavi. Ansonsten empfehle ich immer auch die großartige Arbeit von Düzen Tekkal und ihrer Menschenrechtsorganisation HAWAR.help.

Literaturhaus: 16.4., 19.30 Uhr, 12/8 Euro (Livestream: 6 Euro)

Dieser Tipp kommt aus Plan7, der Kultur- und Veranstaltungsbeilage in der neuen WochenMOPO (jeden Freitag neu am Kiosk, hier im günstigen Kennenlern-Abo). Plan7 – das sind 28 Seiten voll mit Kultur und Inspiration für Ihre Freizeit: Kultur-Tipps für jeden Tag der Woche, Tipps für Gastro-Fans und für Hamburg- und Umland-Entdecker. Dazu gibt’s Interviews und Verlosungen für Konzerte, Lesungen, Shows und mehr.

Verlosung: Mit der MOPO zur Lesung von Ronya Othmann

1 x 2 Karten für die Lesung zu gewinnen! Wer mitmachen will, schickt bis 15.4., 10 Uhr, eine E-Mail mit dem Betreff „Lesung“ an kultur@mopo.de und beantwortet folgende Frage: Welchen Titel hat Ronya Othmanns Buch?

Veranstalter des Gewinnspiels  ist die Morgenpost Verlag GmbH. Bei einer Teilnahme gelten unsere AGB als akzeptiert. Diese AGB gibt’s unter www.mopo.de/gewinnspiel-agb

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