Großartiges Finale! Mit „Die Jahre“ verabschiedet sich das Thalia-Ensemble
Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux versucht in ihrem autobiografischen Werk „Die Jahre“ nicht nur das eigene Leben einzufangen und auf dem Papier zu bannen, sondern thematisiert dabei auch die Mechanik des Erinnerns. Es geht also um Vergängliches, und insofern ist der Stoff exzellent gewählt, um mit ihm nach 16 Jahren die letzte große Premiere der Thalia-Theater-Intendanz von Joachim Lux zu beschließen.
Erinnerungen sind flüchtige Biester. „Alle Bilder werden verschwinden“ – diesen Satz heften die Darsteller:innen als ersten Akt an die durchscheinende Außenhaut ihrer Drehbühne und formulieren damit die Grundlage dieses Abends. Spätestens mit dem Tod ist Schluss. Jeder Mensch nimmt seine eigene Welt mit ins Grab. Was bleibt sind – vielleicht – ein paar Worte, Sätze, Familientraditionen, Fotos und Filme, die den Hinterbliebenen mit der Zeit immer weniger erzählen und bedeuten.
Das Stück zelebriert Leben und Lust, Körper und Kunst
Regisseurin Jette Steckel setzt in ihrem Stück auf sieben Ich-Darsteller:innen, aber gut zwei Dutzend Kolleg:innen aus dem Ensemble dürfen mehrmals auf der Bühne mitwirken. Das Theater ist ein lebendiger Kunstkörper, der seine eigenen Erlebnisse und Erinnerungen schafft. Aber auch sein Wesen ist es zu vergehen. „Die Jahre“ sind also auf doppelter Ebene eine melancholische Erforschung der flüchtigen Momente. Zugleich zelebrieren die fast zweieinhalb Stunden Leben und Lust, Körper und Kunst.

Eigentlich werden „nur“ die Stationen des Lebens der Autorin abgesteckt, von der Kindheit im Kriegsfrankreich, die Jugend in den moralisch heuchlerischen Fünfzigern, später die vermeintliche Befreiung durch die Achtundsechziger, die sexuelle Revolution, die vor allem den Männern viel und oft Befriedigung bringt … Regisseurin Steckel versteht es wie eh und je, viele unterschiedliche Bühnensituationen zu schaffen, die bildgewaltig, frisch und – ja! – erinnerungswürdig sind. Souverän, effektvoll eingesetzt und sehr präsent spielt die Liveband in der Bühnenmitte. Das ist ganz großes Kino, nein: riesiges Theater! Eine herausragende Inszenierung und ein würdiger Abschied für viele Ensemblemitglieder.
Thalia-Theater: 26.5., 1./29.6., 9,50-45 Euro, Tel. 32 81 44 44
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