„Anthropolis“: Dieses Mega-Projekt bringt das Schauspielhaus an seine Grenzen
Von der (Corona-)Krise in den Ausnahmezustand: Intendantin Karin Beier hat es ihrem Team in den letzten Jahren nicht leicht gemacht. Mit der Stücke-Reihe „Anthropolis“ geht das Schauspielhaus ein Wagnis ein. Im ersten Halbjahr der Spielzeit sind im Großen Haus fünf griechische Tragödien als Uraufführungen geplant. Allen gemeinsam: Sie spielen in der antiken Stadt Theben. Und: Karin Beier führt Regie. Am Freitag feiert Teil eins des Mammut-Projekts Uraufführung.
„Die Idee für ‚Anthropolis‘ wurde vor ungefähr drei Jahren während des Lockdowns geboren. Damals stand die Stadt ja quasi still, und wir alle mussten plötzlich unsere gesellschaftliche Situation und unseren gewohnten Kulturraum neu überdenken“, sagt die Intendantin des Deutschen Schauspielhauses. Denn was ist ein Theater ohne Publikum? Ein trauriger, trostloser Ort. Und was ist eine Stadt ohne das Theater und seine Geschichten, seine Vitalität und seine Provokationen? Sie ist sehr viel ärmer.
„Prolog/Dionysos“: Uraufführung am Freitag in Hamburg
Beier und ihr engstes Team beschlossen, die Zeit zu nutzen und zu den Wurzeln des europäischen Theaters zurückzukehren, seinen Gründungsmythen und zeitlosen Themen: ins antike Griechenland. Das entstandene Projekt ist einmalig, gewagt und es bringt sogar ein so großes und gut geöltes Theater wie das Schauspielhaus an seine Grenzen.
In den anfänglichen Stadien des Projekts wussten nur wenige Personen von der Unternehmung, nur langsam erweiterte sich der Kreis der Eingeweihten. Ab dieser Woche nun finden jeden zweiten Freitag fünf Uraufführungen hintereinander statt, ein wahnwitziges Programm. Das ist nur möglich, weil alle Gewerke unter Hochdruck gearbeitet haben: „Wir haben die fünf Stücke während der beiden letzten Spielzeiten zusätzlich zum normalen Pensum erarbeitet und geprobt“, so Beier.
Der Dramatiker Roland Schimmelpfennig überträgt die alten Texte von Aischylos, Euripides und Sophokles in eine neue Sprache, gibt ihr eine Form, die alle fünf Stücke zusammenhält und verbindet (s. unten). Im Mittelpunkt steht das antike Theben, die „Stadt der sieben Tore“. Hier ziehen sich Konflikte, Machtkämpfe, Missverständnisse und Eifersüchteleien durch die Generationen – eben das ganze Tableau menschlicher Torheiten und Schwächen. Im Spiegel der Tragödien lassen sich viele heutige Auseinandersetzungen in Kriegen (Russland-Ukraine), dem (Wieder-)Erstarken von Demagogen und einschlägiger Parteien (Trump, AfD) oder nicht staatlicher Tech-Milliardäre (Musk) einordnen und verstehen. Ist die Zivilisation in Gefahr? Anders gefragt: Stehen die Ungeheuer vor unseren eigenen Stadttoren?
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In den fünf Teilen von „Anthropolis“ – also wörtlich übersetzt „Stadt der Menschen“ – treten nicht nur zahlreiche Mitglieder des Ensembles auf; sie lassen einige der bekanntesten Mythen der Antike in einem neuen Licht erscheinen. Ödipus und Antigone sind da nur die Superstars. „Jeder Abend“, betont Karin Beier, „erzählt eine abgeschlossene Geschichte.“ Dennoch freut sie sich über Serienbuchungen und auf die Marathon-Wochenenden.
Der Herbst beginnt. Im Schauspielhaus ist nun Erntezeit!
Wahnsinn, Inzest und Gewalt:
Darum geht’s in den „Anthropolis“-Stücken
„Prolog/Dionysos“ (Premiere ist am 15.9.): Im „Prolog“ wird Theben gegründet. Natürlich nicht als dröger Verwaltungsakt, sondern bizarr und blutig: Gewalt ist dieser Stadt von Anbeginn eingeschrieben. Das beweist sich in „Dionysos“. Die Titelfigur kommt nach Theben und lässt sich als Gottheit feiern. Wer nicht an ihn glaubt, kriegt auf die Mütze. Es folgen Wahnsinn und Zerstörungswut. Wie viel davon hält eine Gesellschaft aus?
„Laios“ (Premiere 29.9.): Mittlerweile hat Laios den Theben-Thron bestiegen. Er ist ein Mann mit vielen Problemen, sein größtes: Die nervige Sphinx vor den Stadttoren verbietet ihm, mit seiner Gattin Nachwuchs zu zeugen. Warum bloß? Die beiden setzen sich über die lauten Warnungen hinweg und siehe da: Ödipus erblickt das Licht der Welt. Au weia! Das Baby wird zur Sicherheit weggeschickt. Das kann nicht gut gehen …
„Ödipus“ (Premiere am 13.10.): Ödipus kehrt zurück und löst das Rätsel der Sphinx, übernimmt die Herrschaft in Theben. Leider ist ihm prophezeit worden, dass er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten wird. Haha, wer wird denn so dämlich sein? Ohne es zu merken, erfüllt der Unglückliche natürlich die Vorhersage und hat dann den Salat. Die – vielleicht sogar allgemeingültige – Frage ist: Hatte Ödipus jemals eine Chance, seinem Schicksal zu entkommen?
„Iokaste“ (Premiere 27.10.): Bitterer Bruderzwist: Ödipus’ und Iokastes Söhne Polyneikes und Eteokles haben verabredet, dass sie sich im jährlichen Turnus mit der Regierung Thebens abwechseln. Doch Eteokles weicht nicht. Polyneikes sieht rot und will mit seinen Truppen die Macht gewaltsam an sich reißen. Da schreitet Iokaste ein und fordert, dass sich die beiden Heißsporne auf dem Verhandlungsweg einigen. Aber wie soll das möglich sein, wenn beide Parteien auf ihrem Recht bestehen und keinen Kompromiss dulden?
„Antigone“ (Premiere 10.11.): Gegen strenge Verbote hat Antigone auf einem ordentlichen Begräbnis für ihren Bruder, den „Verräter“ Polyneikes, bestanden. Nun soll sie dafür von ihrem Onkel Kreon bestraft werden. Antigone pocht darauf, dass man also für die Humanität auch mal fünfe gerade sein lassen muss. Kreon hingegen ist die Staatsräson wichtiger. Er verurteilt Antigone dazu, lebendig eingemauert zu werden. Wie grausam: Diese Stadt Theben, sie ist von Anfang bis Ende auf Gewalt gebaut. (ans)
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