Migräne: Gute Behandlungs-Chancen für den Feind in meinem Kopf
Fenster schließen, Vorhänge zu, regungslos auf dem Rücken liegen und mit geschlossenen Augen warten, dass der Anfall vorbei ist. An einen normalen Tagesablauf ist nicht zu denken. Migräne-Patienten wissen, wovon hier die Rede ist. 367 Hauptformen von Kopfschmerzen gibt es – die Migräne ist eine davon. Was eine Migräne von einem „normalen“ Kopfschmerz unterscheidet und wie die neuesten Behandlungsmethoden aussehen, erklärt Prof. Dr. Günter Seidel. Er ist der Chefarzt der Neurologie und Neurologischen Frührehabilitation an der Asklepios Klinik Nord Heidberg. Zu seinen Schwerpunkten gehört außerdem auch die Neurologische Schmerztherapie.
Fenster schließen, Vorhänge zu, regungslos auf dem Rücken liegen und mit geschlossenen Augen warten, dass der Anfall vorbei ist. An einen normalen Tagesablauf ist nicht zu denken. Migräne-Patienten wissen, wovon hier die Rede ist. 367 Hauptformen von Kopfschmerzen gibt es – die Migräne ist eine davon. Was eine Migräne von einem „normalen“ Kopfschmerz unterscheidet und wie die neuesten Behandlungsmethoden aussehen, erklärt Prof. Dr. Günter Seidel. Er ist der Chefarzt der Neurologie und Neurologischen Frührehabilitation an der Asklepios Klinik Nord Heidberg. Zu seinen Schwerpunkten gehört außerdem auch die Neurologische Schmerztherapie.
MOPO: Wie unterscheidet man die verschiedenen Kopfschmerz-Arten?
Prof. Dr. Günter Seidel: Wie bei allen Erkrankungen der Neurologie ist die Geschichte – also die Anamnese – der Patienten sehr wichtig. Wo sitzt der Schmerz? Wie stark ist er? Wann tritt er auf? Danach können wir schon sehr genau den Kopfschmerz unterscheiden. Die Migräne ist typischerweise ein halbseitiger Kopfschmerz, der im Verlauf aber auch die Seite wechseln kann. Nur etwa 30 Prozent der Patienten haben einen Kopfschmerz im gesamten Kopf. Und: Eine Migräne dauert unbehandelt häufig länger als ein gewöhnlicher Kopfschmerz. Unter vier Stunden dauert der Schmerz fast nie an – eher vier Stunden bis drei Tage.
Migräne verursacht sehr starke Schmerzen?
Der Kopfschmerz ist mittel- bis sehr stark. Aber sehr unangenehm und bei Bewegung hört man den Schmerz quasi wie einen Pulsschlag im Kopf. Auch das ist ein wichtiger Hinweis auf die Migräne. Daneben gibt es noch diverse Zusatzbeschwerden, die auftreten können, wie z.B. Übelkeit und Erbrechen oder Licht- und Geräuschüberempfindlichkeit. Bevor der Kopfschmerz auftritt, kommt es bei etwa zehn Prozent der Patienten zu einer Aura. Aura kommt von Aurora, der Göttin der Morgenröte, und diese Beschwerden entwickeln sich sozusagen wie die aufgehende Sonne. Und in 90 Prozent der Fälle haben die Menschen auch Sehstörungen – typischerweise zunächst einseitig, die sich dann aber ausbreiten können. Gefühlsstörungen, Lähmungen, Sprachstörungen oder auch Schwindelanfälle sind ebenfalls Charakteristika für eine Migräne.

Folgt auf eine Aura immer der Schmerz?
Es gibt auch eine isolierte Aura. Die Sehstörung entwickelt sich ganz langsam, häufig über mehrere Minuten und kann bis zu eine Stunde bestehen bleiben. Dann ist sie plötzlich wieder weg. Das ist schwierig einzuordnen, wenn der Schmerz – also die Migräne – fehlt. In der Neurologie gibt es verschiedene Krankheitsbilder, die das imitieren können wie Schlaganfall oder ein epileptischer Anfall.
Migräne führt auch zu erheblichen Einschränkungen …
Migräne ist eine Erkrankung, die sehr häufig im jungen Erwachsenenalter auftritt. Etwa 75 Prozent der Migräne-Patienten sind unter 35 Jahre alt, das heißt in der sehr produktiven Phase. Etwa ein Drittel der Patienten hat deutliche berufliche Einschränkungen, die Hälfte ist im Privaten erheblich eingeschränkt. Es gibt Berechnungen, dass ein Sechstel des Bruttosozialproduktes durch Migräne verloren geht, weil die Menschen arbeitsunfähig sind. Auch Kinder können während einer Migräne nicht zur Schule gehen, sind dadurch benachteiligt und können eventuell die Leistungen nicht erbringen. Übrigens: Etwa 15 Prozent aller Deutschen – jeder siebte – leiden unter Migräne. Manche haben sogar jeden zweiten Tag eine Attacke. Aber die wenigsten wissen überhaupt, dass der starke Kopfschmerz eine Migräne ist. Sie wurde nicht diagnostiziert und somit leider auch nicht behandelt.
Wie wird eine Migräne diagnostiziert?
Die wenigsten Menschen sagen „Ich habe Migräne“, sondern „Ich habe Kopfschmerzen“. Wie schon gesagt, stehen am Anfang der Untersuchung die genauen Fragen zum Schmerz. Danach erfolgt eine neurologische Untersuchung. Gibt es eventuell Hinweise darauf, ob bestimmte Nervenstrukturen gestört sind? Nach der Anamnese und dieser Untersuchung hat man schon fast 90 Prozent der Diagnosewahrscheinlichkeit erfüllt. Wenn die Diagnose noch nicht eindeutig ist, sollte noch ein MRT gemacht werden, bei dem man sehr genau die Hirnstruktur darstellen kann. Wenn der Verdacht auf eine Entzündung wie z.B. eine Meningitis (Hirnhautentzündung) besteht, muss auch die Nervenflüssigkeit untersucht werden.
Ist Migräne vererbbar?
Ja. Wenn Mutter oder Vater an Migräne leidet, dann liegt die Wahrscheinlichkeit bei etwas über 40 Prozent, dass sie die Veranlagung vererben.

In welchem Alter tritt Migräne am häufigsten auf?
Am häufigsten tritt Migräne mit Mitte 30 auf. Übrigens leiden dreimal mehr Frauen als Männer unter Migräne. Genetisch nachzuweisen ist das nicht. Vielleicht lassen sich die Männer weniger behandeln oder ignorieren den Schmerz eher. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Wahrscheinlichkeit geringer.
Wenn die Gene schuld sind … Kann man denn gar nichts tun?
Doch, man kann sehr viel machen. Um etwas gegen die Migräne zu unternehmen, muss man als Betroffener allerdings erst einmal wissen, dass man eine hat. Also steht die Diagnose an erster Stelle. Die Erkrankung läuft auf verschiedenen Ebenen ab: An den Hirnhäuten gibt es Veränderungen der Nerven an den Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen. Hier kommt es zur Ausschüttung bestimmter Botenstoffe, die die Gefäße erweitern oder entzünden. Das löst an den Hirnhäuten den Schmerz aus. Den Schmerz nehmen wir aber erst als Schmerz wahr, wenn die Nervenimpulse durch die Schmerzreize in bestimmten Strukturen im Stamm- und Großhirn angekommen sind. Daher gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen über bestimmte Medikamente, die einfach gegen Entzündung wirken. Das sind die klassischen Schmerzmittel wie Aspirin oder Ibuprofen. Dann gibt es Medikamente, die genau auf diese Botenstoffe, die zur Gefäßerweiterung führen, wirken. Das sind die Triptane, die die Freisetzung dieser Botenstoffe hemmen. Und auch ganz neue Medikamente gibt es, die dann direkt diesen Botenstoff angreifen können. Die zweite Ebene der Schmerzentstehung kann auch beeinflusst werden: Mit Medikamenten, die beispielsweise auch gegen Depressionen wirken, kann die Schmerzverarbeitung positiv beeinflusst werden. Das sind vorbeugende Medikamente für alle, bei denen oft Migräne-Attacken auftreten, oder wenn die Schmerzen mit den Akut-Schmerzmitteln nicht gut behandelt werden können, wenn z.B. die Nebenwirkungen zu stark sind. Typisch hierzu sind auch so genannte Betablocker, die eigentlich bei Herzrhythmusstörungen und Bluthochdruck eingesetzt werden. Sie wirken erstaunlicherweise auch zur Vorbeugung von Migräne-Attacken. Diese Medikamente werden regelmäßig eingenommen.
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Zu viele Schmerzmittel sind auch nicht gut …
Wenn jemand seine – auch häufigen – Attacken selbst mit Schmerzmitteln behandelt, dann kann es zu einem medikamenteninduzierten Kopfschmerz kommen. D.h. die Medikamente wirken nicht mehr, die Dosis wird daher immer weiter erhöht. In der Folge werden die Nieren oder die Leber angegriffen und die Schmerzen werden immer schlimmer. Das ist ein Teufelskreis, dem die Patienten dann meist nur durch einen Schmerzmittel-Entzug entkommen können. Deshalb kann ich immer nur wiederholen: Wer häufig an Kopfschmerzen leidet, sollte unbedingt zum Arzt gehen.
Was ist mit Stress als Auslöser?
Migräne ist eben nicht nur eine Störung von diesen Botenstoffen, sondern es ist eben auch eine Schmerz-Erkrankung, die auch in Stress-Situationen ausgelöst werden kann. Hier ist eine Änderung der Verhaltensweisen zur Stress-Reduktion nötig. Yoga oder andere Entspannungsübungen können helfen. Ziel ist, das Erregungslevel des Gehirns zu reduzieren und damit die Schmerzverarbeitung zu optimieren. Die Patienten wissen meist schon sehr gut, welche Situationen Migräne auslösen können. Auch Lebensmittel-Ergänzungsstoffe wie Glutamat, bestimmte Käsesorten oder Rotwein können Auslöser sein. Migräne-Patienten führen meist einen Kopfschmerz-Kalender, in dem sie alles eintragen: Wie viele Attacken gab es, gab es Auslöser usw.? Das ist wichtig, um die Medikamente richtig zu dosieren. Außerdem werden so bestimmte Verhaltensweisen und Lebensmittel identifiziert, die eine Attacke auslösen. Andersherum gibt es keine bestimmte Diät oder Nahrungsmittel, die Migräne günstig beeinflussen.
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Kann die Corona-Impfung Migräne auslösen?
Es gibt keine wissenschaftlichen Daten dazu, dass eine Impfung eine Migräne-Attacke auslösen kann oder die Krankheit längerfristig verschlechtert. Das ist auch nicht anzunehmen. Aber: Nach der Impfung kommt es zu einer Entzündungsreaktion im Körper. Diese führt immer dazu, dass sich Schmerzen verstärken. Auch nach einer Grippe-Impfung können einem anschließend etwas die Knochen wehtun. Ich möchte ganz offiziell betonen, dass es absolut notwendig ist, sich gegen Corona impfen zu lassen. Das Risiko bei einer Corona-Infektion ist um ein Vielfaches höher.
Dieses Interview ist ein Auszug aus der neuen Folge des MOPO-Gesundheitspodcasts „Butter bei die Nierchen“. Im Podcast geht Prof. Dr. Günter Seidel auch darauf ein, ob Migräne-Patienten intelligenter oder erfolgreicher sind, spricht über neue – noch nicht zugelassene – Medikamente und gibt einen Ausblick darauf, wann Migräne ganz ausgeschaltet werden kann. Die Folgen können Sie überall dort hören, wo es gute Podcasts gibt oder Sie klicken gleich hier auf den Player: