„Alkohol ist das tödlichste aller Rauschmittel“: Arzt fordert radikale Drogenwende
Weihnachten und Silvester sind noch nicht lange her: Anlässe, zu denen gerne und viel getrunken wird. Doch seit dem Jahreswechsel machen viele Menschen beim „Dry January“ mit, bleiben einen Monat lang nüchtern. Wie passt das zusammen? Eine Antwort darauf hat Sucht-Experte Gernot Rücker. Der 58-Jährige leitet die Notfallmedizin an der Uniklinik Rostock, dazu ist er seit rund 20 Jahren ärztlicher Leiter des „Fusion“-Festivals in Lärz (Mecklenburg-Vorpommern). Seine überraschende Erkenntnis: Nicht die illegalen Substanzen wie Heroin & Co., sondern der legale Alkohol ist die gefährlichste Droge von allen. Im MOPO-Interview erklärt Rücker, wieso wir eine Gesellschaft im Dauerrausch sind, warum die gegenwärtige Drogenpolitik völlig fehlgeleitet ist – und wie in realistischer Blick auf Rauschmittel wirklich aussieht.
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Weihnachten und Silvester sind noch nicht lange her: Anlässe, zu denen gerne und viel getrunken wird. Doch seit dem Jahreswechsel machen viele Menschen beim „Dry January“ mit, bleiben einen Monat lang nüchtern. Wie passt das zusammen? Eine Antwort darauf hat Sucht-Experte Gernot Rücker. Der 58-Jährige leitet die Notfallmedizin an der Uniklinik Rostock, dazu ist er seit rund 20 Jahren ärztlicher Leiter des „Fusion“-Festivals in Lärz (Mecklenburg-Vorpommern). Seine überraschende Erkenntnis: Nicht die illegalen Substanzen wie Heroin & Co., sondern der legale Alkohol ist die gefährlichste Droge von allen. Im MOPO-Interview erklärt Rücker, wieso wir eine Gesellschaft im Dauerrausch sind, warum die gegenwärtige Drogenpolitik völlig fehlgeleitet ist – und wie in realistischer Blick auf Rauschmittel wirklich aussieht.
MOPO: Erst Festtagstrinken, jetzt „Dry January“ – was sagt das über unseren Umgang mit Alkohol aus?
Gernot Rücker: Der „Dry January“ kommt ursprünglich aus Großbritannien, in Deutschland ist das ein eher neues Phänomen. Aus meiner Sicht hat das viel mit der Völlerei der vorangegangenen Feiertage zu tun. Nach diesen großen Ess- und Trinkgelagen sind wir alle sowieso hyperkalorisch. Nun steht die Fastenzeit vor der Tür, die Menschen besinnen sich und halten Maß. Ich finde die Idee des trockenen Januars gut, weil darüber eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsum stattfindet. Bei Alkohol habe ich ohnehin den Eindruck, dass immer mehr Menschen ihr Trinkverhalten kritisch hinterfragen.
Wenn man sich ansieht, wie viel Alkohol, Koffein und Co. wir tagtäglich konsumieren, könnte man den Eindruck gewinnen, das Leben sei nüchtern gar nicht zu ertragen. Ist dem so?
Ich bin mir nicht sicher, ob man das immer unter dem Begriff der Nüchternheit sehen muss. Zum Beispiel ist Koffein kein klassisches Rauschmittel. Andererseits sind wir eine völlig berauschte Nation: Der Anteil der 18- bis 65-jährigen, die sich berauschen, liegt bei über 90 Prozent. Natürlich sind die nicht alle dauerberauscht, aber die Droge ist allgegenwärtig. Nahezu jede Kultur kennt Rauschdrogen, dass Menschen sie brauchen, ist völlig unstrittig.
Die Schädlichkeit von Alkohol ist unbestritten. Wieso nehmen wir das einfach hin, während andere Substanzen verboten werden?
Wir haben eine Diktatur des Alkohols! Als Genussmittel, also zum Kochen und Backen, eignet es sich hervorragend, als Rauschmittel ist es jedoch völlig ungeeignet. Alkohol ist eine der giftigsten Substanzen, dazu macht er extrem abhängig. Sie ist außerdem die tödlichste aller psychoaktiven Substanzen. Alkohol ist mit rund 75.000 Toten jährlich die Nummer eins, danach kommt lange nichts. An Opioiden sterben jedes Jahr etwa 500 Menschen, an Cannabis überhaupt keiner. Wieso ich da nur Alkohol legal konsumieren darf, leuchtet mir nicht ein.
Alkohol wird auch deutlich mehr konsumiert als andere Drogen. Erklärt das nicht die Diskrepanz?
Alkohol ist nicht nur in absoluten Zahlen die tödlichste Substanz, sondern auch relativ gesehen. Nehmen wir zum Beispiel die Amphetamine, also MDMA (Ecstasy), Speed und deren Abkömmlinge. Von rund fünf Millionen Konsumenten können wir in diesem Bereich ausgehen. Es sterben jedes Jahr jedoch nur etwa 200 an ihrem Konsum.
Also vier Menschen pro 100.000 Konsumenten…
Auf der Gegenseite haben wir 75.000 Alkoholtote, bei etwa 60 Millionen Konsumenten.
…was 125 Toten pro 100.000 Konsumenten entspricht.
Daraus ergibt sich klar, dass Alkohol die schädlichste Substanz von allen ist. Wir müssen lernen mit Substanzen umzugehen, die deutlich weniger gefährlich sind als der Alkohol. Zur Zeit haben gesetzestreue Bürger aber keine Auswahl, weil die weniger gefährlichen Stoffe kriminalisiert werden.
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In meiner Schulzeit war das Aufklären über Drogen geprägt von Abschreckung. Da hieß es: Alkohol in Maßen, Finger weg vom Rest. Welcher Ansatz wäre sinnvoller?
Abschreckung hat noch nie funktioniert. Wir müssen als Gesellschaft den Rausch akzeptieren lernen, daran führt kein Weg vorbei. Risikoarmer Konsum setzt ein Verständnis über das Zusammenspiel von Dosis und Wirkung voraus – das gilt es als erstes zu lernen. Dazu das Wissen, welche Substanzen was bewirken. Wenn ich mich nur entspannen möchte, muss es dann gleich Alkohol sein? Wäre Cannabis nicht geeigneter? Und unter 18 sollte überhaupt nicht konsumiert werden dürfen. In den Gehirnen von Jugendlichen haben Rauschmittel generell nichts zu suchen.