• Dieser Tic war Vanessa besonders unangenehm: Sie zeigte Passanten wahllos den Mittelfinger. „Mein Tourette versucht offenbar, das größtmögliche Arschloch zu sein“, sagt sie.
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„Fuck! Scheiße!“: 22-Jährige erzählt ganz offen: So ist das Leben mit Tourette

Schneeberg –

Wer an die Krankheit Tourette denkt, verbindet mit ihr oft Menschen, die lauthals Schimpfworte rufen. Das trifft jedoch nur auf einen Teil der Betroffenen zu – die meisten haben andere Probleme.

Fakt ist: Das Tourette-Syndrom gehört zu den eher seltenen Krankheiten: Je nach Studie sind 0,4 bis 0,7 Prozent der Bevölkerung betroffen. Und doch ist es dank verschiedener Filme, Serien und Bücher sehr bekannt.

Die wenigsten aber wissen wirklich, was sich hinter dem Namen verbirgt. Und wie es sich damit lebt. Die 22-jährige Vanessa weiß es.

Tourette-Syndrom raubt Vanessa den Schlaf

„Viele sind erstmal irritiert, wenn ich schnaube oder mit dem Kopf zucke. Aber die wenigsten raffen, dass es Tourette ist“, sagt Vanessa Arnold. Die 22-Jährige aus Schneeberg im Erzgebirge bekam mit sechs Jahren die Diagnose.

„In der Öffentlichkeit kann ich die Tics meistens unbewusst gut unterdrücken. Wenn ich dann aber nach Hause komme, entlädt sich alles. Manchmal kann ich sogar nicht einschlafen, weil mich die Tics wachhalten.“

Tourette: Vorstellung der Krankheit ist von Extremfällen geprägt

Sie schreit nicht wild „Fuck“ oder „Scheiße“. Aber genau so etwas verbinden die meisten – oft leicht amüsiert – mit Tourette.

„Das mediale Bild der Krankheit ist stark geprägt von den Extremfällen“, sagt Professorin Kirsten Müller-Vahl. Sie leitet in Hannover die größte Ambulanz in ganz Deutschland für Patienten mit dem Tourette-Syndrom.

„Die meisten verbinden die Krankheit mit Koprolalie“ – das ist das unkontrollierte Rufen von Schimpfwörtern oder Wortfetzen, wie es zum Beispiel im Film „Vincent will Meer“ (2010) mit Florian David Fitz gezeigt wird. Doch tatsächlich machen das weniger als 20 Prozent ihrer Patienten, sagt Müller-Vahl.

Tourette-Krankheit tritt immer vor dem 18. Lebensjahr auf

Um die Diagnose Tourette stellen zu können, müssten Patienten über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr motorische Tics und mindestens einen vokalen Tic haben. Dazu gehören aber eben nicht nur Schimpfwörter, sondern auch Räuspern, Hüsteln, Fiepen und andere unkontrollierbare Laute. 

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Vanessa (22) hat ihr Leben ihrer Erkrankung angepasst, sie weiß, dass sie in ihrer Mobilität und ihrer Berufswahl eingeschränkt ist. Störend findet sie die Tatsache, dass sie ständig für ihre Tics erklären muss. 

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Auch die Ausprägung der einzelnen Tics könne variieren. Immer trete die Krankheit vor dem 18. Lebensjahr auf.

„Tics sind wie Niesen“

Vanessa Arnold würde sich wünschen, dass mehr Menschen ihre Tics direkt richtig einordnen könnten. Sie habe oft das Gefühl, sich outen oder rechtfertigen zu müssen. „Vielen muss ich erklären, was ein Tic überhaupt ist und dass der nicht kontrollierbar ist. Ich vergleiche es immer mit dem Niesen, das ist auch schwer zu unterdrücken.“

Jedoch ist es für Außenstehende auch nicht immer einfach, einen Tic als solchen zu erkennen. Beispielsweise hatte Vanessa eine Zeit lang den Tic, Passanten wahllos den Mittelfinger zu zeigen. „Das war nicht so cool“, sagt sie. „Ich habe manchmal das Gefühl, mein Tourette versucht das größtmögliche Arschloch zu sein.“

Oft würden Menschen sie anstarren oder beschämt wegschauen. „Das ist natürlich beides nicht so ein schönes Gefühl. Durch den Stress, der dann entsteht, werden die Tics oft noch heftiger.“

Tourette-Ursachen sind unklar

Doch woher kommen die Tics? Tourette gilt als neurologisch-psychiatrische Krankheit mit organischer Ursache, da sie das Gehirn betrifft, sagt Müller-Vahl. Die genauen Hintergründe seien aber noch unbekannt.

„Man weiß, dass der Stoffwechsel im Gehirn bei Erkrankten verändert ist, aber nicht warum. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnzentren ist gestört, vermutlich durch eine Überaktivität im Dopamin-System.“ Stress könne die Symptome stark verschlimmern.

Tourette: Autofahren ist für Vanessa nicht möglich

„Ich glaube, vielen ist einfach nicht bewusst, dass Tourette eine ernsthafte Krankheit ist, die das eigene Leben stark einschränken kann“, sagt Vanessa. „Ich kann nicht Autofahren, weil ich Angst habe, dass ich einen heftigen Tic bekomme und einen Unfall baue.“

In ihrer Heimat, einer ländlichen Gegend, ist das ein echtes Problem. „Fahrradfahren ist auch schwierig, also laufe ich viel. Zum Glück fahren mich meine Eltern und Freunde auch mal, wenn ich eine Strecke nicht laufen kann.“ Das mache sie aber ziemlich abhängig von anderen.

Tourette sorgt für große Probleme im alltäglichen Leben

Auch die Berufswahl wird durch ihre Krankheit beeinflusst. „Ich kann nicht jeden Beruf lernen. Egal ob Karriere in der Chirurgie oder Jobs wie Kellnern, ich bin immer eingeschränkt. Deswegen war es mir von Anfang an wichtig, bei der Karrierewahl realistisch zu bleiben.“

Vanessa Arnold hat Amerikanistik in Leipzig studiert. „Ich habe einen starken Fokus auf gute Bildung gelegt, um auf dem Arbeitsmarkt bessere Chancen zu haben.“

Tourette-Tics haben auch schmerzhafte Auswirkungen

Zu den Einschränkungen in Mobilität und Berufswahl kommen noch körperliche Probleme. Arnold habe beispielsweise den Tic, die Zähne aufeinanderzupressen und mit der Zunge an den Zähnen zu reiben. „Das sieht man zwar von außen nicht, aber es richtet trotzdem ziemlichen Schaden an. Manchmal ist meine Zunge ganz wund, dann tun die Tics auch richtig weh.“

Durch einige vokale Tics hat Arnold zudem Probleme mit dem Kehlkopf. „Ich habe Echolalie. Als sich ein Vogel vor meinem Fenster eingenistet hat, habe ich den Tic bekommen, das Pfeifen nachzuahmen“, erzählt sie. „Das war ganz schön nervig.“

Darum gehe sie auch nicht zu Selbsthilfetreffen. „Ich will nicht die Tics von anderen Erkrankten übernehmen.“

Tourette-Medikamente lehnt Vanessa ab

Vanessa Arnold hat nach eigener Aussage auch schlechte Erfahrungen mit Medikamenten gemacht, eine entsprechende Behandlung lehnt sie seitdem ab: „Ich habe mich von den Medikamenten total benommen gefühlt.“

Allerdings hat sie das sogenannte CBD-Öl aus Hanf für sich entdeckt. Weil das Öl nicht berauschend wirkt, ist es in Deutschland legal. „Es beruhigt mich, wenn ich besonders viel Stress habe. Die Tics gehen zwar nicht weg, aber werden deutlich weniger“, sagt sie.

Unter Medizinern sind verschriebene Cannabidiol-Produkte jedoch stark umstritten. Sie werden meist nur in Betracht gezogen, wenn alles andere nicht funktioniert.

Tourette: Heilung nein, Reduzierung ja

Eine Heilung ist derzeit nicht möglich, die Symptomatik lässt sich aber verringern. Prof. Ulrich Voderholzer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde sagt:

„Durch eine Verhaltenstherapie können die Betroffenen lernen, ihre motorischen und vokalen Tics zu kontrollieren. Meist verschwinden die Tics dadurch nicht, aber die Betroffenen können besser damit umgehen.“

Eine medikamentöse Therapie messe sich häufig am Schweregrad der Erkrankung und dem Leidensdruck des Einzelnen. (dpa)

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