Vor 90 Jahren auf dem Kiez geboren: Diese Frau lebt St. Pauli
Manchmal schlendert sie zum Paulinenplatz. Ein Croissant. Einen Kaffee auf die Hand. Von der Holzbank unter den mächtigen alten Bäumen aus schaut Lotti den Kindern beim Spielen zu. Das Juchzen. Die Freude. Lotti erinnert sich noch genau. War sie als Kind doch selber schon auf diesem Spielplatz. Dann denkt die Frau an längst vergangene Tage. Den Pferdeschlachter, der den Kindern Knackwürste schenkte. Die Nachbarsjungen, die die Betrunkenen auf der Straße nachäfften. Und das herrliche Eis des Konditors, das es aber nur im Sommer gab. Heute ist Liselotte Strehlow 90 Jahre alt und St. Paulis älteste Stadtteilführerin. Eine faszinierende Frau, voller Energie und Geschichten.
Erst vor Kurzem ist Lotti 90 geworden. Ein Grund kürzerzutreten? „Auf keinen Fall“, sagt die Frau mit dem schmalen Gesicht, dem modernen Kurzhaarschnitt und den wachen, glänzenden Augen. Dass sie so fit ist – dafür sorgt sie selber.
Manchmal schlendert sie zum Paulinenplatz. Ein Croissant. Einen Kaffee auf die Hand. Von der Holzbank unter den mächtigen alten Bäumen aus schaut Lotti den Kindern beim Spielen zu. Das Juchzen. Die Freude. Lotti erinnert sich noch genau. War sie als Kind doch selber schon auf diesem Spielplatz. Dann denkt die Frau an längst vergangene Tage. Den Pferdeschlachter, der den Kindern Knackwürste schenkte. Die Nachbarsjungen, die die Betrunkenen auf der Straße nachäfften. Und das herrliche Eis des Konditors, das es aber nur im Sommer gab. Heute ist Liselotte Strehlow 90 Jahre alt und St. Paulis älteste Stadtteilführerin. Eine faszinierende Frau, voller Energie und Geschichten.
Erst vor Kurzem ist Lotti 90 geworden. Ein Grund kürzerzutreten? „Auf keinen Fall“, sagt die Frau mit dem schmalen Gesicht, dem modernen Kurzhaarschnitt und den wachen, glänzenden Augen. Dass sie so fit ist – dafür sorgt sie selber.

Von Glamour bis Gosse, von Blaulicht bis Rotlicht: Originale gibt es auf St. Pauli so einige. In der MOPO-Serie „Kiezmenschen“ zeigen Ihnen starke Frauen, protzende Kerle und Kultfiguren ihre Welt. Herzlich, persönlich, nah dran. Parallel dazu erzählen sie jede Woche im gleichnamigen Podcast ihre Geschichten.
Alle Podcast-Folgen der „Kiezmenschen“ finden Sie unter MOPO.de/Podcast, bei Spotify und Apple Podcasts.
Zweimal die Woche Qigong, einmal die Woche Schwimmen. Und regelmäßige Treffen mit ihren vielen Freunden. Mal geht es ins Kino, mal ins Theater oder Restaurant. Am liebsten zu „Cuneo“ an der Davidstraße. Lotti hat viele Interessen. „Alles, was ich mit 30 gemacht habe, mache ich immer noch.“ Für viele Gleichaltrige undenkbar. Für Lotti eine Freiheit, die sie sich zurückerobert hat. Nach einem schweren Kampf.
Kiezmenschen: Lotti kämpfte gegen Leukämie
Mit Ende 60 bekam die Frau Leukämie. Eine Form, an der normalerweise nur Kleinkinder erkranken. Die Mediziner waren ratlos. Neun Monate Klinik. Lotti konnte nicht mehr laufen, wurde künstlich ernährt. „Es ging mir so schlecht, dass man glaubte, ich würde es nicht überleben.“ Die Chemotherapie brach sie ab. „Ich hatte das Gefühl, dass mich das umbringt. Dann wollte ich lieber an der Krankheit sterben.“ Lotti kämpfte. Sie lacht. „Ihr seht, es hat geklappt. Bin wieder da.“

Und wie. Nach ihrem Kampf gegen den Krebs wollte die Seniorin keinen Stillstand. Sie sah einen Aushang von „Landgang St. Pauli“, einem Unternehmen, das Führungen anbietet. Lotti bewarb sich und bekam die Stelle als Stadtteilführerin. Ein neuer Job – mit Anfang 70. „Ich musste mich erst mal einlesen. Zwar bin ich Kiezianerin, aber war lange Zeit nicht mehr hier“, sagt Lotti und entschuldigt sich. Sie braucht erst mal etwas zu trinken. „Ich habe Fisch gegessen. Und der will jetzt schwimmen“, sagt sie lachend.
Lotti schenkt sich ein Glas Wasser ein, nimmt einen Schluck und berichtet von ihren Führungen. Fernab von Sensationen, schlüpfrigen Details und dummen Sprüchen. Junggesellenabschiede lehnt sie generell ab. Die sind ihr zu unangenehm. Ihre Touren, die sie momentan wegen der geringen Nachfrage durch die Pandemie nur noch aushilfsweise anbietet, sind historische Rundgänge. „St. Pauli ist mehr als Reeperbahn und Große Freiheit. Bei mir geht es unter anderem um die Geschichte des Alten Elbtunnels, des Tropeninstituts und Chinesenviertels.“ Auch über ihre Erlebnisse spricht sie. Und da gibt es einige. Schließlich wurde Lotti schon auf dem Kiez geboren.
Kindheit auf St. Pauli: Für Lotti ein Paradies
Das war 1931. Lotti sagt, sie habe in ihrer Kindheit wahnsinniges Glück gehabt. Das Mädchen wuchs bei liebevollen Pflegeeltern auf. Ihre „Oma“ und „Opa“ – wie sie sie nannte. Ein älteres Paar mit einer erwachsenen Tochter und Enkelkind. Sie lebten an der Paul-Roosen-Straße. Für Lotti ein Paradies. Sie traf sich jeden Tag mit den Nachbarskindern draußen zum Spielen.

So viel Zeit ist seitdem vergangen. Doch die 90-Jährige, die auch in dem Dokumentarfilm „Manche hatten Krokodile“ mitspielt, erinnert sich noch an etliche Details von damals. Wie die Krabbenfrau, die mit einem alten Kinderwagen voller Krabben durch die Straßen zog. Den Gemüseladen, in dem jeder geduzt und mit Namen angesprochen wurde und sie manchmal Stachelbeeren in einer braunen, spitzen Papiertüte bekam. Den Drehorgelmann, zu dessen Musik die Kinder im Hinterhof im Kreis tanzten. Und das Waschhaus, in das die Anwohner gingen, die keine eigene Badewanne hatten.
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Auch von den Feiernden bekam sie als Kind gelegentlich etwas mit. Wenn Männer aus Kneipen wankten, manchmal keifende Ehefrauen im Schlepptau. „Denen liefen die Jungs immer hinterher, grölten und äfften sie nach.“ Lotti und ihre Freundinnen machten so etwas nicht. Ohnehin spielten sie nicht mit den Jungs. „Die waren viel zu frech und machten auch Kloppe mit den Kindern aus anderen Straßen.“
Kiezmensch Lotti: Die Zeit auf St. Pauli war bald vorbei
Lotti und ihre Freundinnen spielten lieber Ball oder Puppen. Wenn sie mal Geld von ihrem Opa ergattern konnte, kaufte sie sich beim Konditor gegenüber ein Eis. Aus einem großen Kübel, der sich drehte „und rumpelte“. Für fünf Pfennige gab es eine kleine Portion. Für zwei Groschen eine große zwischen zwei Muscheln – das war dann aber schon etwas ganz Besonderes. Viel häufiger schenkte der Pferdeschlachter den Kindern eine zerbrochene „Knackwurst“, die er nicht mehr verkaufen konnte.

Besonders beliebt war die Drogerie mit den beiden großen Schaufenstern. Sogar an die roten Locken des Inhaber-Sohns erinnert Lotti sich noch. Und die unzähligen zerrissenen Momente in dem Laden. Wenn sie sich entscheiden musste. Wollte sie lieber Salmis, die sie sich auf den Handrücken klebte und daran lutschte, oder eine Stange Süßholz? Auf der wiederum konnte man tagelang herumkauen, bis sie ausgefranzt war.
Eine unbeschwerte Zeit. Die bald vorbei war. Ein Jahr nachdem das Mädchen 1938 auf der Großen Freiheit eingeschult worden war, musste es St. Pauli verlassen. Die Eltern übernahmen ein Restaurant nahe München. Neue Schule. Neue Freundinnen. Kaum eingelebt, ging es jedoch wieder zurück nach Hamburg. Die Eltern wollten ein Lokal nahe dem Großneumarkt übernehmen. Eine Zeit geprägt durch den Krieg. Der Vater wurde eingezogen. Lotti „ausgelagert“ – zu ihren Großeltern nach Hessen. Wieder neue Schule. Wieder neue Freundinnen. Gerade noch ernst, lächelt Lotti auf einmal und schwärmt liebevoll von ihrer Großmutter, die sie „in Freiheit dressiert“ habe. Eine Frau mit sechs Kindern, die ganz selbstverständlich auch noch Lotti aufnahm. „Eine wunderbare Kindheit. Ein reicher Ort mit Schwimmbad, Feldern und Wäldern.“ Die Schrecken des Krieges erlebte sie trotzdem – auch auf dem Kiez.
Lotti erinnert sich: Bombennächste auf St. Pauli
Die Sehnsucht nach der Mutter war so groß, dass Lotti ihre Ferien auf St. Pauli verbrachte. Auch 1943, in den verheerenden Bombennächten – der „Operation Gomorrha“. Lotti erinnert sich, dass sie in Schuhen und Kleidung schlafen musste, neben dem Bett ein Köfferchen mit dem Nötigsten. Eines Nachts Alarm. Die Familie rannte zum Tiefbunker an der Reeperbahn – die heutige Tiefgarage unter dem Spielbudenplatz. „Das große Tor stand offen und die Leute stürzten hinein, um sich in Sicherheit zu bringen. Aber irgendwann wurden die Tore geschlossen.“

Lotti erinnert sich genau an den Anblick der Leichen, beim Verlassen des Bunkers. „Das vergisst man nicht mehr.“ Angst hatte sie aber nicht. „Kinder haben keine Angst. Sie treffen andere Kinder, unterhalten sich. Nur wenn die Mütter hysterisch werden. Dann schreien die Kinder mit.“ Auch im Bunker auf dem Heiligengeistfeld suchte die Familie einmal Schutz. Bis heute ein Ort, den Lotti kaum ertragen kann. Nach Jahrzehnten war die Frau mal wieder dort. „Da hatte ich Gänsehaut.“ Sofort dachte sie an das ohrenbetäubende Rattern der Flakgeschütze auf dem Dach.
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Nach Ende des Krieges kam Lotti 1945 zurück nach St. Pauli. „Da war der Kiez am Boden. Alles zerstört. Trümmer überall.“ Gemeinsam mit ihrer Mutter lebte sie in einem Zimmer an der Bernstorffstraße. Kaputte Scheiben. Kaum Essen. Nichts zu beißen. Eine schlimme Zeit. Durch die sie es kurz drauf alleine schaffen musste. Mit gerade mal knapp 15 Jahren. Ihre Mutter zog zu einem neuen Mann. Lotti blieb alleine in dem Zimmer. Die Vermieter kümmerten sich jedoch um sie.
Anfang der 50er Jahre auf dem Kiez: Da war Strippen noch ganz anders
In erster Linie war es aber Lotti, die sich um sich selbst kümmerte. Eine Kämpferin sei sie gewesen. Schon immer. Nach der mittleren Reife an der Helene-Lange-Schule bekam sie eine Lehrstelle als Fotolaborantin. Ihr Traum war es, Journalistin zu werden. Doch es war nicht die Zeit für Träume. Die junge Frau war dankbar überhaupt ein Einkommen zu haben. Das allerdings ziemlich schmal war. So arbeitete Lotti nach der Lehre auf dem Kiez. Erst verkaufte sie im St. Pauli Theater in den Pausen Schokolade, Pfefferminzrollen und andere Süßigkeiten. Später kellnerte sie im legendären „Indra“ – dem Lokal, in dem die Beatles ihren ersten Auftritt hatten. Das war allerdings nach Lotti. Sie war Anfang der 50er Jahre dabei. Eine spießige Zeit – weit entfernt von Peepshows. „Das war ein wunderbares, seriöses Lokal. Nicht wie heute. Diese billigen Shows.“ Damals nannte man das Strippen noch Entkleidung. Ihre Kollegin Brigitte habe eine solche „Nummer“ gezeigt. Langsam entblätterte sie sich zur Musik. Am Ende fiel der Büstenhalter und der Dame wurde schnell ein Umhang drübergeworfen. Nackte Brüste? Lotti winkt ab. Ach was. Die wurden niemals gezeigt.
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Die 90-Jährige lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und lächelt. Sie erzählt von den Rosen und Orchideen, die ab und an für sie im „Indra“ abgegeben wurden. Lotti hatte „jede Menge“ Verehrer. „Ich sah sehr gut aus“. Doch sie entschied sich für einen jungen Mann aus Pommern. Den hatte sie im „Blauen Peter“ an der Großen Freiheit kennengelernt. Ein Frühlokal, in dem man sich nach der Schicht traf. Auch Schlager-Star Freddy Quinn lernte sie dort kennen. Und den damals bekannten Boxer Peter Müller. Er kam regelmäßig auf seiner Trainingsstrecke vorbei. Am Tresen trank er eine Dose Kondensmilch und joggte weiter.

Das bunte Treiben im „Indra“ war vorbei, als Lotti mit ihrem Mann zusammenkam. „Das hat ihm gar nicht gefallen, dass ich hinter der Bar gearbeitet habe.“ Das junge Paar verließ St. Pauli. Nach einem kurzen Stopp in Bremerhaven lebten sie lange Zeit in Oldenburg, betrieben ein Hotel, bekamen zwei Kinder. Später arbeitete Lotti als Händlerin. Erst für Playmobil, kurz auch mal für Wickelkleider und Käse und dann für Schmuck. „Das ist meine eigentliche Leidenschaft. Ich bin Händlerin.“ Als Lotti Mitte 60 war, starb ihr Mann. Und die Frau mit der herzlichen, offenen Art bekam im Griechenland-Urlaub ein Jobangebot. Sie nahm es an. Und arbeitete drei Jahre lang als Schmuckhändlerin auf Korfu.
Kiez-Liebe: „Heimat bleibt Heimat“
„Heulend und schluchzend“ kam sie Ende der 90er Jahre zurück. Weil ihre Mutter schwer krank wurde und erblindete. „Ich fühlte mich wie aus dem Paradies ausgestoßen.“ Aber sie wollte sich um ihre Mutter kümmern. Auf einmal wieder St. Pauli. Dabei war ihre große Liebe mittlerweile Griechenland. Nachdem ihre Mutter gestorben war, zog Lotti in die Senioren-Wohnanlage am Zirkusweg, in der ihre Mutter zuletzt gelebt hatte. Eine kleine eigene Wohnung mit Blick auf das Bismarck-Denkmal und den Michel. Auf dem Balkon tummeln sich die Spatzen. Lotti fühlt sich wohl. „Das kann den Himmel und das Wasser Griechenlands nicht ersetzen. Aber Heimat bleibt Heimat. Ich möchte nirgends anders wohnen.“ Auch wenn sich vieles über die Jahre verändert hat. Der Zusammenhalt und die Offenheit auf St. Pauli sind geblieben. Das ist es, was ihr Zuhause ausmacht. Was es schon immer ausgemacht hat. Und weiter ausmachen wird.