Vom „Blätterteig-König“ zum Betreiber von Hamburgs ältester Schwulenbar
Pulverfass-Gründer Heinz-Diego, seine gute alte Freundin Domenica und kürzlich auch noch Kult-Wirt Horst Schleich. Sie alle sind gegangen. Herbert schüttelt traurig den Kopf. Kein einziger seiner alten Weggefährten sei noch am Leben. „Das schmerzt mich sehr", sagt der Mann in gestreiftem Hemd und Lederweste. Auf dem Kopf einen Hamburger Elbsegler. Vorbei die Zeiten, in denen ein entblößter Schwertschlucker die Gäste zum Toben brachte und Deutschlands bekannteste Hure ihm ihre Sorgen über den Tresen hinweg anvertraute. Herbert Wisnewski (83) ist seit 48 Jahren Wirt des „Piccadilly" an der Silbersacktwiete und verrät, wie es mit Hamburgs ältester Schwulenkneipe weitergeht.
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Pulverfass-Gründer Heinz-Diego, seine gute alte Freundin Domenica und kürzlich auch noch Kult-Wirt Horst Schleich: Sie alle sind gegangen. Herbert schüttelt traurig den Kopf. Kein einziger seiner alten Weggefährten sei noch am Leben. „Das schmerzt mich sehr“, sagt der Mann in gestreiftem Hemd und Lederweste. Auf dem Kopf einen Hamburger Elbsegler. Vorbei die Zeiten, in denen ein entblößter Schwertschlucker die Gäste zum Toben brachte und Deutschlands bekannteste Hure ihm ihre Sorgen über den Tresen hinweg anvertraute. Herbert Wisnewski (83) ist seit 48 Jahren Wirt des „Piccadilly“ an der Silbersacktwiete und verrät, wie es mit Hamburgs ältester Schwulenkneipe weitergeht.
Unter einem ovalen Spiegel im schweren Goldrahmen sitzt Herbert auf der Eckbank am Eingang. Vor ihm ein Tisch mit Marmorplatte. Kristall-Aschenbecher. Ein Strauß rosafarbene Rosen. Das Licht gedimmt. Unter der Decke hängen Kaffeekannen. Dutzende. Verändert hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas in dem Laden. Zumindest optisch nicht. Ansonsten hat sich viel getan. „Zum Glück. Es waren anfangs schwere Zeiten“, sagt der Wirt.
Als die Schwulenkneipe 1958 von Johnny Skolm eröffnet wurde, war sie noch Zufluchtsort. Ein geschützter Raum für Homosexuelle. Eine Zeit, in der der Paragraf 175 „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe stellte. Zivilbeamte der Fahndungskommission „Homo“ das Treiben in den Schwulenkneipen beobachteten. Selbst das Tanzen von Homosexuellen hart bestraft wurde. Damals kam keiner so einfach ins „Piccadilly“. Am Eingang war eine Klingel. Es wurden Gesichtskontrollen durchgeführt.
Nur eine Frau durfte in Hamburgs Schwulenbar „Piccadilly“
Alle anderen Schwulenkneipen hatten offene Türen. „Das waren bestimmt 40. Es sind dann aber zu viele Sachen passiert. Irgendwann hatten alle eine Klingel.“ Im „Piccadilly“ allerdings habe es nie einen Übergriff gegeben. Nicht mal an Zivilbeamte erinnert sich Herbert.
Vier Jahre nach der Eröffnung sei er als Kellner dazugekommen. Gleich zu Anfang spielte sich ein großes Drama ab. Mit der einzigen Frau, die die Bar betreten durfte. Die Putzfrau. „Die hatte einen sehr großen Busen. Einmal hatte sie ihn auf dem Tresen abgestützt.“ Herbert musste die Fläche abwischen und bat sie: „Können Sie die einmal runternehmen?“ Die Putzfrau tobte. Und forderte Johnny auf, seinen neuen Kellner rauszuschmeißen. Sonst gehe sie. Am Ende war es die Putzfrau, die ging. Jahrzehnte später tauchte sie im Laden auf und gab sich zu erkennen. Herbert lacht. Ein schönes Wiedersehen sei das gewesen.
Prominente Gäste in Hamburger Schwulenbar „Piccadilly“
Der Wirt erinnert sich gerne zurück an die alten Zeiten. In der die kleine Kneipe großen Zulauf hatte. Bis heute werden die Gästebücher sorgsam gepflegt. Max Raabe, etliche Schauspieler des Ohnsorg-Theaters und Kiez-Schriftsteller Hans Eppendorfer sind nur einige der vielen Verewigten. Besonders gerne denkt Herbert an längst verstorbene Freunde. Wie Deutschlands bekannteste Prostituierte Domenica.
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„Sie hat mir immer alles erzählt. Besonders von der Zeit, als sie ausgewandert war.“ Nachdem ihr Bruder verstarb, zog Domenica in dessen Haus nach Süddeutschland. Doch sie blieb nicht lange. „Domenica hielt es da nicht aus. Sie erzählte mir, dass die Leute sie auf der Straße bespucken. In so einem kleinen Städtchen, wenn da die bekannteste…“ Herbert hält inne. Er möchte nicht weitersprechen. „Ich mag nicht Hure sagen. Das ist beklemmend für mich.“ Für ihn war sie nicht Hure, sondern Freundin.
Der Wirt rückt sich seinen Elbsegler zurecht, die Hamburger Kapitänsmütze, und sagt, dass er auch gerne über seine Zeit vor Hamburg sprechen würde.
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Seine Kindheit, die er längst hinter sich gelassen habe. Die ihn offensichtlich aber noch immer schwer beschäftigt. Der Vater, den er nie kennengelernt hat. Die Mutter, die 1942 verstarb. Da war Herbert gerade drei Jahre alt. Woran? Das weiß er nicht. Doch an seine Oma erinnert er sich noch genau. Damals in Erfurt. Die dominante Frau, die ihn häufig schlug.
Er weiß noch, wie schlimm sich der Moment anfühlte, als sie ihm eine Mark in die Hand drückte. Er sollte damit zum Schreibwarenladen gehen und einen Rohrstock kaufen. „Sie hatte den Kochlöffel auf meinem Kopf zerschlagen, den Bügel auf meinem Rücken. Deshalb wollte sie jetzt einen Rohrstock. Und den sollte ich selbst besorgen.“ Grausam.
Doch Herbert hat auch schöne Erinnerungen. Wie er fürs Theater entdeckt wurde. Vom Intendanten und späteren Schauspieler Willy Semmelrogge. Da war er etwa elf Jahre alt. Stets wartete der Junge, der davon träumte, Schauspieler zu werden, vor dem Erfurter Theater auf die Pause und schlich sich dann mit in den Saal. Einmal setzte er sich nicht wie sonst auf einen der hinteren freien Plätze. „In der vierten Reihe waren zwei Plätze frei. Doch auf einmal setzte sich ein Mann neben mich und fragte, ob ich auch gerne mal Theater spielen würde.“
Herbert konnte es nicht fassen. Willy Semmelrogge stellte sich als Intendant vor und brachte ihn ans Theater. In drei Stücken spielte er mit. Für jede Probe bekam er zwei Mark, für jede Vorstellung ebenfalls.
Wie der Konditor im „Piccadilly“ landete
Hinter der Bühne bekam er eines Abends auch seinen ersten Kuss. Von einem Jungen. Sie warteten auf ihren Einsatz, als er ihn fragte, ob er schon einmal geküsst habe. Herbert verneinte. „Und dann nimmt er mich einfach und küsst mich. Das fand ich so toll“, sagt der alte Mann breit grinsend. Doch schwul sein – das wollte Herbert nicht. Er hatte einige Freundinnen. „Erst mit 21 Jahren hat das Schwule gesiegt. Da war ich schon in Hamburg.“
Mit 17 war er aus Erfurt weggegangen. Allein. Herbert machte eine Lehre zum Konditor, war der Beste bei Pasteten, der „Blätterteig-König“. Mit 20 ging er nach Hamburg, lebte bei seiner Tante Lenchen „auf der Luftmatratze im Korridor“ und arbeitete in Konditoreien. In der Zeit landete er im „Laubfrosch“ auf dem Kiez. Sein erster Besuch einer Schwulenkneipe. Schon 100 Meter vorher ließ er sich vom Taxifahrer absetzen. Aus Scham. Sein Plan war, sich heimlich reinzuschleichen. Doch kaum hatte Herbert die Tür geöffnet, brüllte die Wirtin: „Eine Neue ist da.“ Ab da ging er regelmäßig in den Laden und begann dort zu kellnern, nachdem er seinen Job in der Konditorei verloren hatte.
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Nicht die einzige Bar, in der er arbeitete. Doch irgendwann wollte er was Eigenes und übernahm nach dem Tod von Johnny das „Piccadilly“. Für ihn war klar: Er will kein getrenntes Publikum. Also ließ er erstmals auch Frauen in den Laden. Eines Abends sei eine junge, hübsche Frau reingekommen. Sie fragte, ob sie telefonieren könne. Zurück an der Bar sagte sie: „Ich kann noch bleiben. Im Geschäft ist nicht viel los.“ Das wiederholte sich mehrfach.
Herbert verstand sich gut mit der Dame, fragte allerdings nie, in welchem Geschäft sie arbeite. Das Geheimnis lüftete sich, als er zu ihrem Geburtstag eingeladen war. In die Herbertstraße. „Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Bei der Feier zeigte ihm die Prostituierte ihr Arbeitszimmer. Darin ein Gynäkologenstuhl. „Den nannten wir früher Pflaumenbaum.“ Daneben ein Fahrrad, auf das man anstatt eines Sattels einen „Gummischwanz“ drehen konnte. In der Ecke ein silberner Käfig. Die Hure erklärte ihm, dass sie die Freier darin einsperre und zeigte ihm eine Kehrschaufel mit langem Stiel. „Da kamen Haferflocken und Hack drauf zum Füttern“, sagt Herbert lachend.
Entblößter Säbelschlucker sorgte für Ohnmacht
Er hat schon so einiges außerhalb der Norm erlebt. Aus dem Nähkästchen plaudern mag der Wirt jedoch nicht. Was genau abging im „Piccadilly“? Das bleibt sein Geheimnis. Herbert überlegt und gibt dann doch ein wenig preis. Wenn sich jemand nackt auszieht und alle damit einverstanden sind, wäre das kein Problem. Kam das häufiger mal vor? „Ja, das kam vor“, sagt er schmunzelnd.
Einmal sei ein Mann mit Rucksack reingekommen und habe gefragt, ob er auftreten dürfe. Er sei Säbelschlucker. Die Gäste waren begeistert. „Als er fertig war, kam er zu mir und sagte, dass er es noch mal machen würde. Dann aber nackt und er würde dabei onanieren.“ Herbert lacht. Er fragte in die Runde, ob die Gäste das wollen. Jubel. Die Leute flippten aus vor Begeisterung. „Ein Mädchen saß in der Ecke mit seiner Freundin und fiel bei dem Anblick in Ohnmacht.“ Herbert lächelt vor sich hin. Das waren noch Zeiten.
Hamburger Schwulenbar „Piccadilly“: Wirt Herbert (83) noch immer aktiv
Heute kommen viele Stammgäste und Nachbarn. Mal ein paar Gläser abräumen, mal einen Aschenbecher ausleeren. Herbert ist mit seinen 83 Jahre noch immer im Laden aktiv. Aber er kann nicht mehr wie früher. Er hat ein künstliches Knie, geht am Stock. Sein Mann Uwe unterstützt ihn viel. Vor fünf Jahren haben sie geheiratet. „Niemals hätte ich gedacht, dass das irgendwann möglich sein wird.“ Für Herbert der schönste Moment seines Lebens.
Er hofft noch möglichst viel Zeit mit seinem Uwe zu haben. Und mit seinem Laden. Anderthalb Jahre möchte er das „Piccadilly“ noch führen. Bis er die 50 Jahre voll hat. Die Bar und Uwe. Das sind seine beiden großen Lieben. „Müsste ich wählen, wäre die Entscheidung aber ganz klar“, sagt Herbert und nimmt die Hand seines Mannes.
Steckbrief Herbert Wisnewski (83)
Spitzname und Bedeutung Hinter meinem Rücken nennen mich manche Berta. Meistens Leute, die ich seit Jahrzehnten kenne. Früher wurde ich auch Herr Herbert genannt.
Beruf/ erlernte Berufe Wirt des „Piccadilly“, gelernter Konditor
St. Pauli ist für mich… mein Geburtsort. So empfinde ich es. Hier lebe ich fast mein ganzes Leben lang und konnte so sein, wie ich bin.
Mich nervt es tierisch, wenn… daneben gepisst wird.
Ich träume davon,… die 50 Jahre im „Piccadilly“ voll zu machen. Und dass ich noch lange mit meinem Uwe zusammen sein kann.
Wenn mir einer blöd kommt,… dann kriegt er es zurück.
Zum Abschalten… brauche ich totale Ruhe. Keine Musik. Kein Fernsehen. Dann sitze ich einfach nur zu Hause und mache gar nichts.
Als Kind… war es sehr schwierig für mich. Meine Eltern sind früh verstorben und meine Großmutter hat mich häufig geschlagen.
Meine Eltern… kannte ich nicht.
Vom Typ her bin ich… sehr herzlich, aufrichtig, manchmal ein wenig zu weich.