„Spaß beim Sex mit Kunden? Hatte ich noch nie!“
Schon als Teenie träumte Sarah vom Kiez – als sie noch in einem verschlafenen Nest in Thüringen lebte. Ihre Jugend beschreibt sie als Katastrophe. Nach der Trennung der Eltern ging es bergab. Da war sie 13 Jahre alt. Falsche Freunde. Drogen. Schulden. Immerhin: Nach der Schule schaffte sie eine Ausbildung zur Speditionskauffrau, schmiss dann aber hin. Und machte immer mehr Schulden.
„Irgendwann dachte ich, ich werde die Abwärtsspirale mit einem normalen Job nie wieder los. Die finanzielle Situation hat mich dazu getrieben, als Prostituierte zu arbeiten.“ Sarah ging nach Hamburg. Und suchte auf einer Internetplattform ihren ersten Kunden. „Das war sozusagen mein Übungsfreier. Ich wollte wissen, ob ich das überhaupt kann.“
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen //
online kündbarMOPO+ Jahresabo
für 79,00 €Jetzt sichern!Spare 23 Prozent!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach zum gleichen Preis lesen //
online kündbar
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
So hell hat sie die Meile noch nie erlebt. Mitten am Tag. Mit Sonnenschein. Ein seltsames Gefühl für Sarah. Langsam schlendert die Frau mit den langen schwarzen Haaren in Designer-Turnschuhen, Hose und bauchfreiem Oberteil über die Reeperbahn. Zwischen den dunkelroten mächtigen Lippen eine Zigarette. St. Pauli – da wollte Sarah (30) schon als Jugendliche hin. Jahre später landete sie im „Pink Palace“ an der Reeperbahn. Die Hure erlebte die brutale Konkurrenz unter den Prostituierten. Die teils skurrilen Vorlieben der Freier. Und den Wunsch nach ein wenig Liebe. Und sei es nur für eine Stunde. Mittlerweile hat sie den Kiez verlassen. Für die Frau lohnt sich die Sünde an dem Ort, der für sie immer „die große Freiheit“ war, nicht mehr.
Schon damals träumte Sarah vom Kiez – als sie noch in einem verschlafenen Nest in Thüringen lebte. Ihre Jugend beschreibt sie als Katastrophe. Nach der Trennung der Eltern ging es bergab. Da war sie 13 Jahre alt. Falsche Freunde. Drogen. Schulden. Immerhin: Nach der Schule schaffte sie eine Ausbildung zur Speditionskauffrau, schmiss dann aber hin. Und machte immer mehr Schulden. „Irgendwann dachte ich, ich werde die Abwärtsspirale mit einem normalen Job nie wieder los. Die finanzielle Situation hat mich dazu getrieben, als Prostituierte zu arbeiten.“ Sarah ging nach Hamburg. Und suchte auf einer Internetplattform ihren ersten Kunden. „Das war sozusagen mein Übungsfreier. Ich wollte wissen, ob ich das überhaupt kann.“ Sie konnte. Auch wenn es am Anfang komisch gewesen sei. Mit der Zeit kam die Routine und Sarah wurde ihre Schulden los. „Jetzt mache ich es weiter, weil ich nie wieder dahin kommen möchte, wo ich mal war. Es ist gutes Geld und der Job ist o.k.“, sagt die selbstbewusst wirkende Frau.
Von Glamour bis Gosse, von Blaulicht bis Rotlicht: Originale gibt es auf St. Pauli so einige. In der MOPO-Serie „Kiezmenschen“ zeigen Ihnen starke Frauen, protzende Kerle und Kultfiguren ihre Welt. Herzlich, persönlich, nah dran. Parallel dazu erzählen sie jede Woche im gleichnamigen Podcast ihre Geschichten.
Alle Podcast-Folgen der „Kiezmenschen“ finden Sie unter MOPO.de/Podcast, bei Spotify und Apple Podcasts.
Sarahs Tage starten spät und enden früh
Im „Pink Palace“ an der Reeperbahn schaffte sie an. Das „Sex-House“ wirbt damit, das „weltweit angesagteste, schärfste und größte Laufhaus mit Appartement-Charakter“ zu sein. Ihr Einstieg war ganz einfach. Die selbstständige Sexarbeiterin ging in den Laden und sagte, wie lange sie ein Zimmer mieten möchte. 100 bis 150 Euro zahlte sie für 24 Stunden – je nach Größe und Ausstattung. Manche klein, andere geräumig und mit Badewanne. Standard in jedem Appartement: mehrere Alarmknöpfe. Ein einziges Mal musste Sarah den Security-Dienst bemühen. „Erst war alles total entspannt. Während des Aktes hat der Gast dann aber auf einmal das Kondom abgezogen.“ Für Sarah absolutes No-Go. Ohne zu zögern drückte sie den Alarm. Mehrere Männer kamen ins Zimmer gestürmt. Kein Abwarten. Keine Diskussionen. Sie zerrten den Freier aus dem Bett und setzten ihn vor die Tür. „Richtig so. Das geht gar nicht. Zum Glück ist mir sonst noch nie was passiert“, sagt Sarah und gähnt. „Tschuldigung, ich bin noch nicht fit. Erst drei“, sagt sie lachend mit Blick auf die Uhr.
„Das Verhältnis unter den Prostituierten ist schwierig“
Nicht Sarahs Zeit. Ihre Tage starten spät und enden früh. Zwischen 20 und 21 Uhr beginnt sie zu arbeiten. Vor sechs Uhr kommt die Hure selten nach Hause. „Ich liebe die Nacht. Die ist viel schöner als der Tag. Den verschlafe ich meistens.“ Einziges Problem: Wer im „Pink Palace“ früh da ist, bekommt ein Zimmer am Anfang des Gangs. Je später es wird, desto weiter rücken die Prostituierten räumlich nach hinten. Nicht selten war Sarah im letzten Zimmer. Und musste hoffen, dass die Männer es bis ans Ende des Flurs schaffen. „Erst wenn der Kunde auf deiner Höhe ist, darfst du ihn ansprechen. Vorher nicht. Das gibt Ärger mit den anderen Frauen.“ Zoff unter den Sexarbeiterinnen – keine Seltenheit. „Das Verhältnis unter den Prostituierten ist schwierig.“ Natürlich seien auch welche dabei, mit denen man sich verstehe, aber „die Konkurrenz ist brutal. Jede will Gewinn machen und versucht alles, um den Gast zu bekommen.“ Teilweise mit den absurdesten Versprechen. Teilweise mit Dumping-Preisen.
Weil sie dazu gezwungen werden? Sarah schüttelt den Kopf. Die von Aussteigerinnen immer wieder beschriebene emotionale und finanzielle Ausbeutung von Frauen hat sie im „Pink Palace“ nicht erlebt. Dort sei sie nur selbstständigen Sexarbeiterinnen begegnet, die auf eigene Rechnung arbeiten. „Den einen oder anderen Zuhälter gibt es sicher auf dem Kiez. Aber da bin ich raus. Ich habe mit Zuhältern so gar nichts zu tun.“ Sarah kann nicht verstehen, warum es nach wie vor Frauen gibt, die freiwillig für einen Mann anschaffen gehen. „Das ist einfach nur sehr traurig.“ Die Huren, die sie kennt, seien selbstbewusst und unabhängig. Und suchen sich aus, mit welchem Freier sie aufs Zimmer gehen.
Ohne Waschen kommt ihr niemand ins Bett
Auch die 30-Jährige lässt längst nicht jeden in ihr Bett. Wenn die Männer zu ungepflegt wirken und sie das Gefühl hat, selbst eine Dusche könne keine Abhilfe schaffen, weist sie sie zurück. Und auch den Mundgeruch von Betrunkenen und Knoblauchfahnen könne sie bei solch einer Nähe nicht ertragen. Um die Freier nicht bloßzustellen, hat sie einen Standardspruch. „Es tut mir leid, ich habe gleich einen Termin. Wir müssen das verschieben.“ Der zieht immer. Ohne Waschen kommt ihr ohnehin niemand ins Bett. Dann sagt sie den Kunden, dass es wegen der Hygiene Vorschrift sei, vorher unter die Dusche zu gehen. Das ist doch total gelogen? Sarah lacht laut auf. „Das ist mir doch egal. Das ist meine Regel und basta. Manche bitte ich sogar, sich gründlich zu waschen. Da kenn ich nichts“, sagt die toughe Frau mit der dunklen Stimme.
Sarahs Kunden sind ein Querschnitt der Gesellschaft. Vom Anwalt über Handwerker bis hin zum Arbeitslosen. „Das fängt bei 18-Jährigen an und hört in hohem Alter auf. Mein ältester Kunde war 83 Jahre alt und da ging noch was.“ Nicht viel. Aber mit Nachhelfen sei das eine schnelle Nummer. „Das ist mir ganz lieb. Bei den älteren Herren läuft es nicht so lange. Und auch die 18-Jährigen sind schnell gemacht.“ Die liebsten Kunden sind ihr freundliche Männer ohne große Extrawünsche, mit denen sie sich vorher ein bisschen unterhalten kann. Über Gott und die Welt. Und über Vorlieben und Bedürfnisse. „Privatkram“ interessiert die Prostituierte nicht. „Ich höre natürlich zu, wenn sie von ihrer Frau und den Kindern berichten, aber es geht mich eigentlich nichts an.“
Ein Fußfetischist hatte Zahnarzt-Equipment dabei
Registrierungspflicht. Immer wieder Kontrollen. Weniger Touristen. Weil das Geschäft auf dem Kiez durch die Pandemie schwierig geworden ist, schafft die Frau mittlerweile in Modellwohnungen an. „Wenn ich mich im Internet selbst vermarkte, läuft es für mich besser. Auf dem Kiez kamen größtenteils Touristen, die ich nie wiedergesehen habe. Jetzt habe ich Stammkunden und kann mir meine Zeiten selber einteilen.“ Momentan hat Sarah höchstens drei Freier pro Nacht. Vor Corona waren es fünf bis sechs. „Ganz schön anstrengend. Ab und zu brennt es dann mal am Ende der Nacht. Aber es ist aushaltbar.“ Ohnehin würde ja nicht jeder Kunde Sex wollen. Manche kommen nur zum Reden, andere wollen „eine Massage, einen Blow- oder Handjob. Das ist ganz unterschiedlich.“
Der skurrilste Wunsch eines Kunden: Ein Fußfetischist hatte Zahnarzt-Equipment dabei und wollte sie mit seinem Dental-Werkzeug verarzten. „Er hat so getan, als wäre was mit meinen Füßen nicht in Ordnung und er müsse es reparieren. Dabei hat er die ganze Zeit mit sich selber gesprochen, was er als Nächstes machen muss“, sagt Sarah und haut lachend mit der Hand auf den Tisch. Tränen schießen ihr in die Augen. Noch immer sieht sie den Mann an ihren Füßen hocken und hochkonzentriert rumdoktern. „Sehr lustig. Zum Glück total harmlos.“
Was ihre Dienste kosten – darüber spricht die Hure ungern. Die Preise gestaltet sie individuell. Wenn jemand nach viel Geld aussieht, zahlt er mehr. Sympathische Abgebrannte zahlen weniger. Sarah überlegt. Na ja, egal. Sie könne es ja ruhig sagen. „Standardverkehr kostet in der Regel eine Stunde 150 Euro. Ohne Extra-Toppings wie Natursektspiele oder so was.“ Die meisten Kunden wollen „Gott sei Dank“ aber sowieso eigentlich Liebe – zärtlichen Sex mit Streicheln.
„Absolutes Tabu ist Analsex“
Harte Sachen macht Sarah ohnehin nicht. „Absolutes Tabu ist Analsex.“ Und auch Küssen ist ausgeschlossen. Zu intim. „Wenn ich jemanden küsse, sind da auch Gefühle.“ Und die hat Sarah bei der Arbeit generell nicht. Da schaltet sie komplett ab. Immer. Manchmal geht sie im Kopf ihre Termine durch, plant gedanklich die nächsten Tage oder ihren Einkauf. Meistens ist ihr Kopf jedoch leer. „Nicht weil ich ein Problem damit habe, sondern weil ich einfach meinen Job mache. Das ist total routiniert.“ Spaß – den hatte sie noch nie beim Sex mit Kunden. Obwohl manchmal schon „optisch tolle Männer“ zu ihr kommen. „Trotzdem ist es ein Geschäft. Und ein Mann, der zu Prostituierten geht, kommt für mich sowieso nicht infrage.“ Echt jetzt? Die Singlefrau nickt. Wer wolle schon einen Freund, der mit anderen ins Bett geht?
Momentan ist ein Partner ohnehin nicht ihr Thema. Sie ist glücklich, alleine in ihrer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung auf St. Georg zu leben. Und einen Job zu haben, der gutes Geld bringt. Über das Anschaffen sprechen – für die Frau kein Problem. „Ich gehe offen damit um, damit der Job mehr Normalität erfährt.“ Für sie bedeute das Anschaffen Freiheit und Unabhängigkeit. „Ja, es gibt auch glückliche Prostituierte, die den Job ganz bewusst machen.“ Sie wünscht sich mehr Anerkennung. Für sich und alle anderen Huren.