Seemann „Halbe Lunge“ über Huren, Heimweh und Herzensprojekte
Morgen bleibt er einen Moment in der Haustür stehen und schaut auf seine „fantastische Straße“ mit dem Kopfsteinpflaster, den Bäumen und den besonderen Menschen, von denen er viele kennt. Und die ihn kennen. Als Seemann „Halbe Lunge“. Der Typ mit dem Irokesen-Haarschnitt, der früher als Kapitän in der Welt unterwegs war. Der seine beiden Autos auch mal für einen Urlaub an andere Kiezianer verleiht, Obdachlosen hilft und als Aktivist Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet hat. Jürgen Prey (56) ist der Kapitän vom Kiez mit dem großen Herzen.
Jeden Morgen bleibt er einen Moment in der Haustür stehen und schaut auf seine „fantastische Straße“ mit dem Kopfsteinpflaster, den Bäumen und den besonderen Menschen, von denen er viele kennt. Und die ihn kennen. Als Seemann „Halbe Lunge“. Der Typ mit dem Irokesen-Haarschnitt, der früher als Kapitän in der Welt unterwegs war. Der seine beiden Autos auch mal für einen Urlaub an andere Kiezianer verleiht, Obdachlosen hilft und als Aktivist Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet hat. Jürgen Prey (56) ist der Kapitän vom Kiez mit dem großen Herzen.
Eigentlich ist „Halbe Lunge“, so wie die meisten anderen, gar kein echter Kiezianer. Jürgen hat „migrantischen Hintergrund“. Er kommt aus dem Kreis Dithmarschen. Aus Brunsbüttelkoog. Aufgewachsen in einer selbstständigen Handwerkerfamilie, war sein Weg klar: Jürgen übernimmt irgendwann die von seinem Opa gegründete Firma für Schiffsreparaturen und Stahlbau. Das dachten zumindest seine Eltern. Doch ihr Sohn wusste schon immer, dass das nicht sein Weg ist. „Aber ich wusste nicht, was ich wollte. Als Jugendlicher hatte ich ein ausgeprägt schlechtes Selbstwertgefühl. Ich habe mir nichts zugetraut.“
Ein Praktikum brachte die Wende. Mit 15 Jahren ging er für sechs Wochen auf ein Schiff. Raus aus der dörflichen Enge. Raus aus den Schranken des Elternhauses. „Das war genau das Richtige. Nutten, Schnaps und Zigaretten“, sagt „Halbe Lunge“ lachend.
Auf einmal überkam Jürgen Prey auf See die Einsamkeit
Zwar waren seine Eltern wenig begeistert, doch sie ließen ihn nach der Schule ziehen. Endlich frei. Jürgen machte eine Ausbildung zum Matrosen und fuhr auf einem schwer schaukelnden Kümo (Küstenmotorschiff) über die Nord- und Ostsee. Doch er konnte seine Freiheit nicht genießen. Auf einmal überkam ihn die Einsamkeit. Er hatte Heimweh – trotz allem. Nach Hause konnte er nicht.
Zu den monatlich 180 Arbeitsstunden kamen bis zu 160 Überstunden. Dann kam auch noch Weihnachten. „Ich rief zu Hause an und die Tränen kullerten.“ Die Monate vergingen, und Jürgen gewöhnte sich an das Leben auf See. Er wechselte den Arbeitgeber und ging auf große Fahrt.
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Raus in die weite Welt. Auf großen Pötten mit 30 Mann Besetzung ging es nach Brasilien, Argentinien, Uruguay. „Halbe Lunge“ erinnert sich grinsend an die durchzechten Nächte. „Seeleute haben weltweit kein gutes Ansehen. Sie sind randständig und feiern mit anderen Randständigen. Mit den Leuten der Subkultur, Transmenschen. Und mit Huren.“ Ansprechen. Verhandeln. Aufs Zimmer. So lief das in Südamerika nicht.
„Du gehst in eine Hafenkneipe, und die Mädchen suchen die Jungs aus.“ Über Geld wurde nie gesprochen. Es gab keinen Preis. „Wir sind uns immer mit viel Respekt und auf Augenhöhe begegnet. Dem Seemann ging es nicht nur um Sex. Dem ging es um menschliche Nähe.“ Es sei wie ein One-Night-Stand gewesen, an dessen Ende der Seemann morgens eine „großzügige Summe“ in der Handtasche der Frau verschwinden ließ.

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Für manche Seeleute waren die Frauen mehr als nur Vergnügen. Sie schickten den Mädchen ihre Ziehscheine. Das ist der Teil der Heuer (des Lohns), der von der Reederei direkt nach Hause geschickt wird. „Ich kannte eine Frau, die eine erstklassige Wohnung am Strand hatte und ein schickes Auto. Sie bekam drei Ziehscheine. Das Problem war nur, wenn ihre drei Verehrer zeitgleich in den Hafen einliefen oder auf demselben Schiff waren.“
Jürgen lacht. Gerne denkt er zurück an die wilden Zeiten, in denen sich die Seemänner nach durchzechter Nacht jeden Morgen schworen, heute Abend auf keinen Fall loszuziehen. Und sich nach der Schicht wieder in einer Hafenkneipe wiederfanden.

Klar, einen draufmachen war schön. Aber Jürgen wollte mehr. Er begann sein Nautik-Studium an einer Seefahrtschule in der Nähe von Bremen. Dort bekam er im ersten Semester auch seinen Spitznamen verpasst. Beim Fußballspielen. Nach drei Minuten saß er keuchend auf der Bank. Der Kommentar eines Mitspielers: „Na Dicker, hast auch nur ’ne halbe Lunge, was?“ Von dem Tag an war Jürgen „Halbe Lunge“. Ein „mittelmäßig talentierter Dilettant und mittelmäßiger Chaot.“ Seine erste Frau, eine Brasilianerin, die er in Deutschland kennengelernt hatte, brachte Struktur in sein Leben. Und so wurde aus „Halbe Lunge“ der „neue Jürgen“ – wie seine Freunde sagten. Ein geschniegelter Kapitän in Uniform.
Nach 17 Jahren auf See war jedoch Schluss. Die Familienplanung stand an. Der Kapitän wurde Vater von zwei Töchtern und bewarb sich als Lotse auf dem Nord-Ostsee-Kanal. Seit mittlerweile 22 Jahren fährt er immer dieselbe Strecke. 55 Kilometer – zwischen Brunsbüttel und Rendsburg. „Das Lotsendasein ist eine schöne Sache. Du hast keinen Chef, kein Personal, keinen Papierkram. Du fährst Schiffe und manövrierst sie.“ Nachdem seine Ehe zerbrochen und seine beiden Töchter zu ihm gezogen waren, lernte der Seemann seine zweite Frau kennen, die ebenfalls zwei Töchter hat. Seine Bonuskinder. Zusammenleben? Das war dem Ehepaar mit vier Kindern zu kompliziert. Und so lebte jeder mit seinen Kindern allein.
Die Wohlwillstraße ist sein kleines Paradies
Vor sieben Jahren zog Jürgen auf den Kiez. In eine Wohnung an der Wohlwillstraße. Sein kleines Paradies. „Es ist wunderbar. Wir haben hier viel Zusammenhalt, viel Kultur, viele Menschen, die sich gegenseitig helfen.“ Auch „Halbe Lunge“ ist bekannt als einer, der sich für andere stark macht. Er verleiht regelmäßig seine beiden Autos an Kiezianer – darunter seinen „Freak Bus“ (ein Ford Transit). Und er kümmert sich auch um die Nachbarn, die keine Wohnung haben. Jürgen schnackt mit den Obdachlosen, gibt ihnen Geld, organisiert Hilfe. Für Archie, der immer auf dem Kiez unterwegs ist, rief der Seemann zu Spenden für ein Zimmer auf. Ein halbes Jahr lang hatte der kranke Mann ein Dach über dem Kopf – finanziert von den Menschen des Viertels. „Das wollen wir in diesem Jahr wieder machen. Auch für eine andere, sehr liebe obdachlose Frau.“
Der Seemann mit dem Iro hat ein großes Herz. Nicht nur für die Menschen um ihn herum. Er ist Aktivist bei „Sea-Watch“ und war 2016 auf zwei Missionen im Mittelmeer, bei denen er Hunderte Flüchtlinge rettete. „Das ist sehr tiefgehend, was man da erlebt. Wenn man Menschen retten kann, wenn Menschen sterben oder tot im Wasser treiben.“ Kleinkinder, Frauen, Hochschwangere. Menschen zusammengepfercht in Gummibooten, in denen ein ätzendes Gemisch aus Salzwasser und ausgelaufenem Benzin schwamm. „Du konntest die Haut von den Beinen abziehen. Das war richtig übel.“

Immer wieder wurden auch Tote aus den Zwischendecks der Holzboote gezogen – erstickt an den Auspuffgasen. Jürgen erinnert sich noch genau an eine Frau, die sie an Bord zogen. Flüssigkeit lief ihr aus dem Mund. Ihr Kopf kippte zur Seite. Sie starb in dem Moment, in dem sie endlich in Sicherheit hätte sein können. „Wir konnten sie nicht wieder ins Leben zurückholen“, sagt Jürgen traurig.
Er schluckt, schaut aus dem Küchenfenster und berichtet dann, wie sich eine Gruppe von Flüchtlingen um die Verstorbene versammelte und für sie sang. „Das nimmt einen schon sehr mit.“ Mit den Bildern im Kopf leben könne er. „Helfen macht glücklich. Wäre ich nicht da gewesen, hätte ihnen niemand geholfen.“ Doch den Geruch der Leichen habe er auch heute noch in der Nase.
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2017 war Jürgen für „Sea-Eye“ im Mittelmeer. Als Kapitän. Seine Erste Offizierin: Carola Rackete. Es war sein letzter Einsatz. „Weil die Schiffe danach blockiert wurden, konnte man sich nicht darauf verlassen, dass man wieder vom Schiff runterkommt.“ Ohnehin hat der 56-Jährige nicht mehr die Zeit, rauszufahren. Neben Frau, Kindern, Job, Wohnung und Engagement auf dem Kiez hat er auch noch ein Siedlungshaus in Burg (Dithmarschen). Seine „Alten-WG“.
Gemeinsam mit seiner Frau und anderen befreundeten Kiezianern will er das Haus vergrößern und im Alter dort leben. Zumindest zeitweise. Den Kiez verlassen? Kommt für „Halbe Lunge“ nicht infrage. „Ich werde niemals hier weggehen. Ich habe hier alles. Eine coole Ecke mit coolen Menschen.“ St. Pauli – das ist seine Freiheit.

Steckbrief Jürgen Prey (56)
Spitzname und Bedeutung: „Halbe Lunge“, weil ich während des Studiums beim Fußballspielen keuchend auf der Bank hockte. Der Kommentar eines Mitspielers: „Na Dicker, hast auch nur ‘ne halbe Lunge, was?“ Von dem Tag an war ich „Halbe Lunge“.
Beruf/erlernte Berufe: Lotse, gelernter Matrose und Kapitän auf großer Fahrt
St. Pauli ist für mich … viel Freiraum, viel Empathie, viel Essen, Kultur und Freundschaft.
Mich nervt es tierisch, wenn … der öffentliche Raum privatisiert wird und es keinen bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. Und Glasscherben auf der Straße nerven mich auch.
Ich träume davon …, gesund in Rente zu gehen und 100 Jahre alt zu werden.
Wenn mir einer blöd kommt, … gucke ich ihn mir an und frage mich, was ihm zugestoßen ist, dass er gerade so scheiße ist.
Zum Abschalten … gehe ich Fastenwandern im Harz.
Als Kind … war ich frech, unangepasst und hatte rote Haare und Sommersprossen.
Meine Eltern … waren der Klassiker der in den 30er Jahren geborenen anständigen Bürger.
Vom Typ her bin ich … extrovertiert und offen. Hätte ich nicht Matrose gelernt, wäre ich Koberer geworden.