Eine unerklärliche Schwere – „Sankt Paddy“ und die Depression
Manche Tage sind wie Blei. Der Körper. Die Seele. Eine unerklärliche Schwere. Dann schafft er es nicht mal aus dem Bett. Nur schlafen. Keine Gedanken. Keine Realität. Patrik Sechelmann (45) leidet an Depressionen. Für viele kaum vorstellbar. Sie kennen ihn als „Sankt Paddy“ – den fröhlichen Fan des FC St. Pauli mit der rosafarbenen Sonnenbrille, den lackierten Fingernägeln, den Tätowierungen und der wilden Mähne. Doch Sechelmann möchte seine Depression nicht verstecken – sondern anderen helfen.
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Manche Tage sind wie Blei. Der Körper. Die Seele. Eine unerklärliche Schwere. Dann schafft er es nicht mal aus dem Bett. Nur schlafen. Keine Gedanken. Keine Realität. Patrik Sechelmann (45) leidet an Depressionen. Für viele kaum vorstellbar. Sie kennen ihn als „Sankt Paddy“ – den fröhlichen Fan des FC St. Pauli mit der rosafarbenen Sonnenbrille, den lackierten Fingernägeln, den Tätowierungen und der wilden Mähne. Der nach dem Spiel auf dem Zaun hockt, immer gut drauf ist. Mit dem man so richtig Spaß haben kann.
Es begann mit zu viel Arbeit. Pat war ohnehin schon erkältet, blieb aber nicht zu Hause. Zu viel zu tun, zu wenig Leute. Auch als innerhalb weniger Monate drei Freunde von ihm starben, arbeitete er weiter. Und bekam immer mehr auf den Tisch. Als sein Chef dann auch noch Druck machte, dass Pat fertig werden müsse, verließ er weinend das Büro. Als er zurückkam, habe sein Chef gesagt, „er wolle so was hier nicht sehen. In seinem beschissenen Umfeld seien auch schon mal Leute gestorben.“
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Heute glaubt Pat, dass das der entscheidende Moment war. Er nennt es den „Riss in der Seele“. Pat machte eine Übergabe und ließ sich von seinem Hausarzt krankschreiben. Er ging nach Hause ins Bett. Da blieb er und schlief. Tagelang. „Ich habe mich nicht mehr rausgetraut und wusste teilweise nicht mal mehr, wie man sich anzieht.“ Nach drei Wochen holte Pat sich Hilfe beim Psychologen.
Wie jetzt – Depressionen? Pat konnte und wollte es nicht wahrhaben. Für ihn war es ein Burn-out. „Das hörte sich irgendwie trendig an. Vertretbar. Nachvollziehbar.“ Doch der Burn-out wollte einfach nicht weggehen. „Da musste ich mir selber eingestehen, dass es Depressionen sind und ich mir nichts mehr vormachen kann.“ 2017 begann er eine Therapie in einer Tagesklinik. Danach konnte er zumindest wieder aufstehen. Damit seine Erkrankung irgendeinen Sinn ergab, ging Pat über seine Social-Media-Kanäle an die Öffentlichkeit. Er wollte aufklären, anderen Mut machen. Seine Depressionen zu offenbaren – das habe es leichter gemacht.
Sechelmann möchte seine Depression nicht verstecken – sondern anderen helfen
„Es gab einige, die sich danach selber Hilfe geholt haben.“ Das hat auch ihm geholfen. Durch die vielen Menschen, die ihn kennen, fühlt er sich verantwortlich und will die Kraft aufbringen, gegen die lebensmüden Phasen anzukämpfen. Ein schwerer Weg. Je tiefer in der Therapie gegraben wurde, desto dunkler wurde es. Pat bekam Suizidgedanken – mit denen er noch immer fast täglich kämpft. Er vergleicht seine Situation mit einem Keller. Im ersten Raum musste er mit einer Kerze klarkommen. Dann wurde die Tür zum nächsten Raum aufgestoßen. Und der ist stockfinster. „Da muss ich mich jetzt irgendwie zurechtfinden“, sagt der Mann und steckt sich eine Zigarette an.
Die Dunkelheit – das sind die Wurzeln seiner Depressionen, in der Kindheit begründet. Pat wurde mehrfach sexuell missbraucht. Es fällt ihm schwer darüber zu sprechen. Aber er möchte von einer Situation erzählen. Mit leiser Stimme berichtet der Mann von einem Bahndamm in seiner Heimatstadt Münster. Daneben ein Kleingartenverein.
Davon, dass er sich erst nichts dabei gedacht habe, als ein Bekannter der Familie ihn in seine Laube bat. Doch dann sollte er sich ausziehen. Der Mann verriegelte die Tür, machte Fotos. „Bevor ich in die Klinik gegangen bin, konnte ich da ganz leicht von sprechen, dass der Mann Fotos von mir gemacht hat.“ Durch die Therapie seien noch ganz andere Erinnerungen hochgekommen. „Da ist Anfassen das Harmloseste“, sagt Pat und wischt sich mit der Hand über die Augen. Er atmet tief durch. Nein, es reicht. Er möchte von etwas anderem sprechen, etwas Schönem.
Ein schwarzes Kind mit zwei Müttern: Pat erlebte schon früh Diskriminierung
Von seinen beiden Müttern, die ihn großzogen. Zwei Mütter? Pat lacht. Ja, sein Vater sei bloß ein „Sextourist“ gewesen. Ein Mann aus Afrika, den seine Mutter kennengelernt hatte und mit dem sie auf einer Party ihren Sohn zeugte. „Ich bin ein Feten-Unfall, hat meine Mutter immer scherzhaft gesagt.“ Eigentlich sei seine Mama schon immer lesbisch gewesen. Um sich selber zu beweisen, dass sie nicht abnormal ist, habe sie aber auch immer wieder Kontakt zu Männern gesucht. Bis Pat vier Jahre alt war. Da kam seine zweite Mutti hinzu und blieb 22 Jahre.
Als dunkelhäutiger Junge mit zwei Müttern Ende der 70er – für Pat Normalität. Für sein Umfeld alles andere als das. Die Ablehnung bekam er in der Grundschule zu spüren. „Mitschüler wollten zu mir nach Hause kommen, weil sie mal Lesben sehen wollten.“ Lehrer beschimpften ihn wegen seiner Hautfarbe rassistisch, berichtet Pat. Eine harte Zeit für den Jungen. Die Familie zog um, als er Jugendlicher war. Für Pat eine Phase des Umbruchs. Er lernte die Punker am Hauptbahnhof in Münster kennen. Coole Leute. Locker. Unangepasst. „Sie akzeptierten mich, wie ich war.“
Irgendwann wollte er abends nicht mehr nach Hause fahren. Pat blieb bei den Punkern und lebte monatelang auf der Straße – mit 15 Jahren. Danach ging er wieder nach Hause. Aber das Verhältnis zu seinen Müttern war schwierig. Pat sagt von sich, er sei ein wütender, jähzorniger Sohn gewesen. „Das war sicher kein Spaß für meine Mütter.“ Mit 19 zog er endgültig aus. Und suchte sein Glück. Erst in Münster. Viele Jahre später in Hamburg.
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Durch Zufall landete er vor etwa 17 Jahren auf dem Kiez. Der gelernte Werbekaufmann hatte einen neuen Job angenommen. Eine Woche vor Beginn sagte die WG, die ihm mündlich bereits zugesagt hatte, wieder ab. Eine neue Bleibe musste her. Schnell. Pat stieß auf eine Alt-Punker-WG auf St. Pauli und zog ein. „In der ersten Nacht saß ich stocksteif auf meinem Bett. Im Dunkeln. Ich hörte es draußen knallen und dachte, es sei eine Schießerei.“ Dass es auf dem Kiez abgeht, hatte er schon häufiger gehört. Aber gleich am ersten Abend eine Schießerei? Die Wildwest-Szene entpuppte sich als Dom-Feuerwerk. Pat lacht. „Ja ja, als kleiner Westfale war das eine neue Welt.“
Auf St. Pauli hat Pat seine Heimat gefunden
Eine Welt, die er heute nicht mehr verlassen möchte. „Vielleicht ist es ganz gut, dass ich talentfrei mit Frauen bin und keine Freundin habe.“ So müsse er sich gar nicht erst entscheiden, wegzuziehen. Pat lebt in einer gemütlichen 45-Quadratmeter-Wohnung unweit der Reeperbahn. Auf dem Wohnzimmertisch Kerzen und Medikamente, an der Wand etliche Bilder seiner kürzlich an Lungenkrebs verstorbenen Mutter. Vor der Tür eine Fußmatte in Regenbogenfarben. „Auf dem Kiez kannst du sein, was du willst. Hier wird nur auf den Charakter geschaut. St. Pauli und ich – wir gehören einfach zusammen.“ Sich selber als Kiezianer bezeichnen – damit tut sich Pat schwer. Eigentlich sei er ja ein „Quiddje“. Ein Zugezogener.
Dass er trotzdem dazugehört, zeigte ihm eine Situation in seiner Stammkneipe, der „Doppelschicht“ am Rande des Hein-Köllisch-Platzes. Pat feierte seinen Geburtstag. Kneipenkumpel Johnny, damals 70 Jahre alt, schenkte ihm ein Shirt mit der Aufschrift „Geboren in St. Pauli“. Er sagte: „Pat, ich bin geboren auf St. Pauli, ich bin zur See gefahren, ich habe hier alles erlebt. Aber du bist definitiv mehr St. Pauli als ich.“ Das hat Pat stolz gemacht. Und macht es noch heute. Schließlich fühlt sich das Viertel für ihn an wie Heimat.
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Insbesondere wegen seiner großen Leidenschaft zum FC St. Pauli. Für ihn längst nicht nur Fußball. Der Verein hat ihn verändert. „Es geht um Werte. Der FC St. Pauli hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.“ Er sei offener für Andersdenkende geworden. Und ja, trotz seiner rassistisch geprägten Vergangenheit habe auch er manches Mal nicht über seine Wortwahl nachgedacht. Das sei seit St. Pauli anders. Das Millerntor ist für Pat eine eigene, wunderbare Welt, die ihm alles bedeutet. „Wenn das Spiel vorbei ist, wieder aus dieser Welt rauszumüssen, fällt mir schwer.“ Wenn sie gewinnen, ist es deutlich leichter. Dann trägt ihn das durch die ganze Woche. Wenn sie verlieren, müsse er viel getröstet werden. So richtig mit Tränen? „Ja, auch schon manchmal. Es gibt einfach total emotionale Spiele.“
Egal, wie das Ergebnis ist. Die Stadionbesuche bedeuten immer Glück für Pat. Ein Gefühl, das er sonst häufig nicht empfinden kann. Sich über die Sonne freuen. Über einen Anruf. Ein Treffen. Das ist es, was Pat wieder möchte. Und dafür ist er bereit zu kämpfen. Nicht an allen Tagen. Aber immer häufiger.
Hilfe in schweren Stunden
Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Hier finden Sie Beratungs- und Seelsorgeangebote:
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de
Kinder- und Jugendtelefon: Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an junge Menschen. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Samstags nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de.
Muslimisches Seelsorge-Telefon: Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Viele sprechen Türkisch. mutes.de
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention: Unter suizidprophylaxe.de gibt es eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland.