• Das oberste Ziel des Lockdowns: Krankenhäuser nicht überlasten. 
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Wann gibt es Lockerungen?: Streit um 35-Inzidenz – darum will Hamburg dabei bleiben

Hamburg/Berlin –

Noch immer befindet sich Deutschland im Corona-Lockdown. Das Ziel: die Infektionszahlen drücken, um zu verhindern, dass Kliniken und Bestattungsfirmen unter der Last der Corona-Pandemie zusammenbrechen – wie es mancherorts bereits der Fall war. Lockerungen soll es nach jüngsten Beschlüssen erst ab einem stabilen Inzidenzwert von unter 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen geben. Aber ist das noch der richtige Orientierungswert? 

Seit Tagen wird in Deutschland diskutiert: Wann und wie können wir raus aus dem Lockdown? Die Debatte findet vor dem Hintergrund einer komplexen Pandemie-Lage hierzulande statt. Zuletzt stagnierten die Infektionszahlen bundesweit: Trotz Lockdown war kein weiteres Absinken erkennbar. Hamburg verzeichnete sogar eine leicht steigende Tendenz bei den Corona-Neuinfektionen. Die Angst ist groß, dass das die ersten Vorboten von möglicherweise bald flächendeckend grassierenden Mutationen in unserer Stadt sein könnten.

So ist die Corona-Lage in Hamburgs Krankenhäusern

Und wie sieht es in Hamburgs Krankenhäusern aus? Mathias Eberenz, Pressesprecher der „Asklepios“-Kliniken, teilte mit, dass die Lage in seinen Häusern nach wie vor angespannt sei. „Es gibt immer noch zu viele Corona-Intensivpatienten“, erklärte er auf MOPO-Anfrage. Sinkende Inzidenzzahlen würden erst mit Verzögerung auf den Intensivstationen sichtbar, da Covid-Patienten – im Gegensatz zu vielen anderen – oft wochenlang dort liegen würden.

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Ähnliches beobachten die Verantwortlichen im UKE: Dort stagniert die Zahl der stationären Corona-Patienten seit Wochen – am Montag waren es 41, von denen 20 intensivmedizinisch versorgt wurden.

Rund 45.000 Hamburger sind schon geimpft

Steigende Neuinfektionen und angespannte Lage in den Krankenhäusern auf der einen Seite – auf der anderen Seite sind aber viele Risikopatienten, bei denen ein schwerer Covid-19-Verlauf zu befürchten ist, mittlerweile geimpft.

Ebenso sind Ärztinnen und Ärzte, Pfleger und Betreuer immunisiert worden – damit wurde das Risiko einer Unterbesetzung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gesenkt. Rund 45.000 Menschen haben bislang in unserer Stadt einen entsprechenden Schutz bekommen.

Sind Inzidenzwerte überhaupt die geeignete Richtgröße?

Die Strategie, potenzielle Öffnungen an Inzidenzwerte zu knüpfen, verfolgt Deutschland seit Beginn der Pandemie. Aber ist das überhaupt noch zeitgemäß? Brauchen wir möglicherweise andere Richtwerte?

Eine Handvoll Berliner Amtsärzte findet: ja. Sie fordern deshalb nun, Lockerungen nicht mehr an generelle Inzidenzwerte zu knüpfen. „Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab“, schreiben die Amtsärzte in einer Stellungnahme, die dem „Tagesspiegel“ vorliegt.

Amtsarzt Larscheid

Patrick Larscheid, Amtsarzt im Berliner Bezirk Reinickendorf, ist einer der beteiligten Mediziner.

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Sie seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig. „Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln.“ Es sei ein Unterschied, ob Inzidenzen durch Cluster-Ausbrüche oder breite Durchseuchung zustande kämen und auch, welche Altersgruppen infiziert seien, argumentieren die Mediziner weiter. 

Auch Politiker fordern: Nicht nur auf die Inzidenz schauen!

Auch aus der Politik gibt es Kritik an der „35er-Strategie“. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) etwa findet, „dass nicht nur die Inzidenz, sondern auch der R-Wert und die Auslastung der intensivmedizinischen Kapazitäten in Kliniken berücksichtigt werden“ müssten, wie Senatssprecher Marcel Schweitzer auf MOPO-Anfrage mitteilte.

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Wie der „Spiegel“ berichtet, wollen andere SPD-Politiker das Infektionsschutzgesetz so anpassen, dass auch die Zahl freier Intensivbetten sowie die Fähigkeit der Gesundheitsämter, Infektionsketten nachzuweisen, berücksichtigt wird. Die Opposition schloss sich dem teilweise an: So sprach sich unter anderem FDP-Chef Christian Lindner für die Betrachtung anderer Messgrößen aus – nur so könne man Maßnahmen „verhältnismäßig“ gestalten.

R-Wert in Deutschland zuletzt wieder über 1

Aber wie sieht es mit diesen alternativen Messgrößen aus? Der R-Wert etwa stieg am Wochenende deutschlandweit wieder auf über 1 – bedeutet: Jeder Infizierte steckt aktuell mindestens einen weiteren Menschen an. Experten forderten zuletzt, im Hinblick auf die drohende Gefahr durch Mutationen, den R-Wert durch entsprechende Maßnahmen auf 0,7 zu senken, um einer dritten Corona-Welle zu entgehen.

Und wie läuft die Nachverfolgung der Infektionsketten? Da gibt es mittlerweile gute Nachrichten: Die Gesundheitsämter in Hamburg teilten erst kürzlich mit, dass mittlerweile wieder alle Kontaktpersonen eines Infizierten nachverfolgt werden könnten. Ähnliches berichten zum Beispiel die Ämter in Hessen. 

Hamburg will von 35-Inzidenz derzeit nicht abrücken

Brauchen wir also vielleicht gar keinen Lockdown mehr? Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, warnt: „Wer in Zeiten steigender R-Werte über Lockerungen spricht, handelt absolut unverantwortlich“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Für solche Schritte sei es zu früh. 

Montgomery

Der Vorsitzende des Weltärztebundes Frank Ulrich Montgomery

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„Der Inzidenzwert zeigt, wo wir aktuell stehen. Der R-Wert zeigt, wohin wir gerade gehen. Bei einem Wert klar über 1,0 droht wieder exponentielles Wachstum – und genau das ist jetzt der Fall.“ Das Virus habe mit seinen Mutationen eine neue Stufe erreicht. Es sei nicht nur ansteckender, sondern führe wahrscheinlich auch zu schwereren Krankheitsverläufen.

Ähnlich äußerte sich Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag: „Die gute Entwicklung, die uns über längere Zeit täglich sinkende Infektionszahlen beschert hat, ist im Moment vorbei. Die Zahlen steigen wieder. Der Anteil der gefährlicheren, weil deutlich ansteckenderen Virusmutationen wächst“, sagte er. Etwa 20 bis 25 Prozent aller Infektionen hierzulande seien mittlerweile auf B.1.1.7. aus England zurückzuführen.

In Hamburg jedenfalls sind sowohl ein Abrücken von der 35-Inzidenz als auch baldige Öffnungen derzeit nicht in Sicht. Das bestätigte auch Senatssprecher Schweizer: Demnach sei Bürgermeister Teschentscher derzeit gegen weitere Lockerungen. Denn: „Die Corona-Lage ist ernster als viele glauben, die jetzt über Öffnungskonzepte sprechen.“

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