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  • Ein Mitarbeiterin der Intensivstation des Universitätsspitals in Lausanne – fast 80 Prozent der Schweizer Intensivbetten sind bereits belegt.
  • Foto: picture alliance/dpa

Schweizer Gelassenheit: Corona-Zahlen explodieren, Unruhe herrscht keine – wieso?

Genf –

Man stelle sich vor, in Deutschland würden täglich doppelt so viele Corona-Infektionen gezählt und es wären mehr als doppelt so viele Menschen gestorben. Noch drastischere Maßnahmen wären wohl die Folge. Nicht so in der Schweiz – dort ist Gelassenheit angesagt. Verkennt man die Dramatik? Oder ignoriert man sie bewusst?

351 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche: Die Corona-Lage in der Schweiz ist dramatisch. Allein gestern meldete das Bundesamt für Gesundheit 4241 Neuansteckungen – bei gut 8,5 Millionen Einwohnern. Gemessen an der Bevölkerungsgröße starben zuletzt viermal so viele Menschen im Zusammenhang mit Corona wie in Deutschland.

Kantone übernahmen Corona-Management – mit fatalen Folgen

Dennoch: Vielerorts sind Bars, Restaurants und Kinos geöffnet, in Casinos wird gezockt, in Fitnessstudios geschwitzt, auch Bordelle sind geöffnet. Eine Höchstzahl von 1000 Zuschauern bei Veranstaltungen wurde im Oktober aufgehoben, Einkaufszentren haben mit dem Weihnachtsgeschäft begonnen – in einem Fall mit einem Gewinnspiel, bei dem sich Hunderte dicht gedrängt auf ein paar Lose stürzten.

Ganz anders im Frühjahr: Damals schloss die Regierung für vier Wochen alle Geschäfte, Clubs und Restaurants. Doch nach der ersten Entspannung löste der Krisenstab sich im Juni auf und überließ die Verantwortung den traditionell sehr selbstbewussten Kantonen – mit fatalen Folgen: Im Oktober sind die Corona-Zahlen explodiert.

Im Kanton Genf geriet die Lage fast außer Kontrolle: deutlich über 1000 Fälle  pro 100.000  Einwohner – so schlimm war es in keiner anderen Region Europas. Anfang November reagierte die Kantonsregierung und verhängte einen lokalen Lockdown – mit dem Ergebnis, dass die Genfer sich noch mehr bewegen, etwa um im Nachbarkanton zum Friseur zu gehen.

Beobachter fürchten: Schweiz hat mehr Interesse an Profit als an Menschenleben

Beobachter fürchten, dass die Schweizer mehr Interesse an Profit als an Menschenleben haben könnten. In der Tat sagte Finanzminister Ueli Maurer kürzlich, man könne sich keinen zweiten Lockdown leisten. Im Interview auf der Webseite seiner Partei, der rechten SVP, bekräftigte er, Wissenschaftler sähen nur die Gesundheit, aber man müsse halt auch Geld verdienen.

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Das Treiben wird mit Entsetzen beobachtet: „Die Schweiz stellt Sparsamkeit über das Leben“, titelte etwa die US-Zeitschrift „Foreign Policy“ gerade. Dutzende Ökonomen schrieben Anfang November einen offenen Brief: „So schwer es fällt und so schmerzhaft es sein wird, die Schweiz braucht einen zweiten Lockdown, gekoppelt mit umfassenden fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen, um weiteren Schaden durch die Corona-Pandemie abzuwenden.“

Inzidenzwert bringt Schweiz an die einsame europäische Spitze

Das Bundesgesundheitsamt sieht das anders: Chefin Anne Lévy sagte dem „Sonntagsblick“, man stehe „nicht wesentlich schlechter da als das europäische Ausland“. Das Gegenteil ist der Fall: Bei der 14-Tage-Inzidenz liegt die Schweiz mit 350 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in Westeuropa einsam an der Spitze, vor Italien, Großbritannien und Frankreich.

Bei aller Gelassenheit: Langsam herrscht doch ein wenig Beunruhigung bei den Eidgenossen – vor allem was die bereits zu knapp 80 Prozent belegten Intensivbetten anbelangt. So schlug etwa Gesundheitsökonom Willy Oggier in der „Baseler Zeitung“ vor, „dass Corona-Skeptiker ihr Recht auf ein Akutbett oder einen Intensivplatz verwirken, falls es zu Engpässen kommt.“ Denn: Man könnte die Leute nicht nur mit Boni locken, oft brauche es „einen Malus, damit das System funktioniert“. (mik/dpa)

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