„Viele Politiker wissen nicht, was es bedeutet, von Hartz IV zu leben“
Am Sonntag wählt die Bundesversammlung einen neuen Bundespräsidenten. Die Sache ist schon vorher klar: Frank-Walter Steinmeier wird das neue, alte Staatsoberhaupt. Doch Prof. Dr. Gerhard Trabert (65, parteilos) will ihm einige Stimmen streitig machen. Was der Arzt und Uni-Professor bei seiner Wahl alles anpacken würde
MOPO: Herr Trabert, der Kampf gegen soziale Ungleichheit scheint kaum jemanden zu interessieren. Warum?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Arme Menschen sind viel zu wenig im Fokus von öffentlichen und politischen Diskussionen. Viele Entscheidungsträger stammen zunehmend aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht, das sorgt für eine große Distanz. Viele Politiker wissen schlicht nicht, was es bedeutet, mit Hartz 4 leben zu müssen. Wer weiß denn, dass einem fünfjährigen Kind von Eltern, die Hartz 4 beziehen, nicht einmal drei Euro täglich für Essen zur Verfügung stehen? Die Dimension von Armut ist vielen nicht klar, einschließlich der Politik.
Für das Klima gehen Hunderttausende auf die Straße. Gegen Armut demonstriert kaum jemand. Können Sie sich das erklären?
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Am Sonntag wählt die Bundesversammlung einen neuen Bundespräsidenten. Die Sache ist schon vorher klar: Frank-Walter Steinmeier wird das neue, alte Staatsoberhaupt. Doch Prof. Dr. Gerhard Trabert (65, parteilos) will ihm einige Stimmen streitig machen. Der Kandidat, der von den Linken aufgestellt wurde, ist Arzt, Uni-Professor und betreibt unter anderem ein Gesundheitsmobil, das wohnungslose Menschen versorgt. Am Freitagabend stellt er sich bei einer Veranstaltung auch den Hamburgern vor. Im MOPO-Interview erzählt er schon vorher, warum Armut und Gesundheit zusammenhängen, warum er sich zur Wahl stellt und was er als Bundespräsident machen würde.
MOPO: Herr Trabert, der Kampf gegen soziale Ungleichheit scheint kaum jemanden zu interessieren. Warum?
Prof. Dr. Gerhard Trabert: Arme Menschen sind viel zu wenig im Fokus von öffentlichen und politischen Diskussionen. Viele Entscheidungsträger stammen zunehmend aus der oberen Mittelschicht oder Oberschicht, das sorgt für eine große Distanz. Viele Politiker wissen schlicht nicht, was es bedeutet, mit Hartz 4 leben zu müssen. Wer weiß denn, dass einem fünfjährigen Kind von Eltern, die Hartz 4 beziehen, nicht einmal drei Euro täglich für Essen zur Verfügung stehen? Die Dimension von Armut ist vielen nicht klar, einschließlich der Politik.
Für das Klima gehen Hunderttausende auf die Straße. Gegen Armut demonstriert kaum jemand. Können Sie sich das erklären?
Viele Menschen spüren, dass auch sie in eine soziale Abwärtsspirale gelangen könnten, gleichzeitig wird Armut tabuisiert. Da Armut für einen selbst zur Bedrohung werden kann, wird es von vielen lieber verdrängt. Wenn ich aber ohnehin schon von Armut betroffen bin, dann habe ich häufig gar nicht mehr die Kraft, um auch noch gegen soziale Ungerechtigkeiten zu demonstrieren. Dann ist man einfach intensiv damit beschäftigt, das eigene Leben abzusichern. Erzählen Sie mal einer alleinerziehenden Mutter, die kaum über die Runden kommt, dass sie sich nebenher noch bei Demonstrationen engagieren soll.
„Es gibt ein Bewusstsein für soziale Themen – aber auch eine gewisse Arroganz”
Das Thema könnte ja auch nicht nur direkt Betroffene stören.
Da erlebe ich eine gewisse Ambivalenz. Ich sehe bei jungen Menschen sehr wohl ein Bewusstsein für soziale Themen. Das habe ich zum Beispiel selbst bei dem Thema Seenotrettung erleben dürfen, wo viele junge Leute mithelfen. Da ist also Potenzial. Weshalb aber die Verhältnisse vor der eigenen Haustür nicht mehr problematisiert werden, das weiß ich auch nicht. Warum Menschen des gehobenen Bürgertums nichts machen, erschließt sich mir noch weniger. Es ist wohl eine Mischung aus Distanz und Unwissen, aber auch fehlender Solidarität und vielleicht auch eine gewisse Arroganz.
Deutschland ist ein wohlhabendes Land – was stört sie denn konkret?
Dazu kann ich Ihnen eine ganze Liste an Problemen nennen: 13,4 Millionen Menschen sind von Einkommensarmut betroffen, 40 Prozent der Alleinerziehenden, in der Regel Mütter. Arme Frauen sterben laut Robert-Koch-Institut 4,4 Jahre früher als reiche, Männer sogar 8,6 Jahre früher. Die Selbstmordrate bei Langzeitarbeitslosen ist zwanzigfach höher als bei Erwerbstätigen. 30 Prozent der von Armut betroffenen Männer erreichen nicht einmal das 65. Lebensjahr. Die Altersarmut nimmt zu und 20 Prozent der Menschen mit schweren Behinderungen sind von Armut betroffen. Das so etwas in einem so wohlhabenden Land möglich ist, finde ich skandalös.
Arme sterben früher als Reiche
Armut erhöht demnach das Risiko krank zu werden und früher zu sterben?
Ja, definitiv. Auch chronische Erkrankungen treten bei armen Männern ungefähr 14 Jahre, bei Frauen 10 Jahre früher auf. Im reichen Deutschland erfrieren wohnungslose Menschen im Winter und haben eine über 20 Jahre geringere Lebenserwartung.
Hartz-4 soll die Menschen vor der schlimmsten Armut bewahren. Zuletzt wurde der Satz um drei Euro erhöht. Tut die Politik genug?
Das reicht nicht einmal, um die Inflation auszugleichen. Geschweige denn, sich von den 17,14 Euro, die für Gesundheitspflege vorgesehen sind, ausreichend FFP2-Masken zu kaufen. Auch der Mindestlohn von 12 Euro ist nicht armutsfest, sondern laut Bundesregierung von 2019 erst ab 12,63 Euro. Hinzu kommt: Das viele Gesundheitsleistungen mittlerweile privat zu finanzieren sind, wie z.B. die Anschaffung einer Brille. Und: Frauen verdienen noch immer 18 Prozent weniger Lohn für dieselbe Arbeit wie Männer und haben im Schnitt eine 46 Prozent geringere Rente. Kurzum: Armut macht krank und Krankheit macht arm.
Am Freitagabend stellt sich Prof. Dr. Gerhard Trabert bei einer Online-Veranstaltung den Hamburgern vor. Näheres unter diesem Link.
Kann Ungleichheit nicht auch etwas Gutes sein, weil sie Anreize zum Aufstieg schafft?
Das ist eine Illusion. Die Schere geht immer weiter auseinander. Im Jahr 2021 besitzen die zwei reichsten Haushalte so viel Vermögen wie 50 Prozent der Bevölkerung. Das Armut eine Motivation ist, ist einfach falsch. Zumal es keine Chancengleichheit gibt. Im Bildungssektor ist der soziale Status entscheidend. Dieses Anreiz-Argument ist mir suspekt. Da geht es meiner Meinung nach eher darum, Reichtum zu stabilisieren und zu vermehren – und nicht darum, Armut zu bekämpfen.
Trabert: Bundespräsident Steinmeier tut viel zu wenig
Nun bewerben Sie sich nicht als Bundeskanzler, sondern auf das repräsentative Amt des Bundespräsidenten. Wie wollen Sie das ausfüllen, sollten Sie wider Erwarten gewählt werden?
Ich möchte Themen auf die Agenda setzen, die gesellschaftlich zu wenig thematisiert werden. Ein Fürsprecher für Menschen sein, die in der Minderheit sind. Die sozial diskriminiert und stigmatisiert werden – und das sind für mich vor allem Menschen, die von Armut betroffen sind. Da muss ein Bundespräsident Akzente setzen, denn er ist der Hüter der Menschenrechte und des Grundgesetzes. Die Zunahme von Ungleichheit bedeutet immer auch eine Gefährdung der Demokratie. Menschen, die sich ausgegrenzt und abgehängt fühlen, sind empfänglicher für totalitäre Ansichten. Man muss sie wieder für die aktive Teilnahme am politischen Diskurs gewinnen. Mein schönstes Erlebnis im Bundestagswahlkampf war, dass sehr viele wohnungslose Menschen mir gesagt haben, dass sie meinetwegen das erste Mal wählen gegangen seien. Genau um so etwas geht es mir, Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen.
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Der bisherige und vermutlich auch künftige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kümmert sich Ihrer Auffassung nach zu wenig um solche Themen?
Ja, bei seiner Neujahrsansprache etwa hat das Thema Armut oder auch Geflüchtete überhaupt keine Rolle gespielt. Er hat auch als damaliger Bundeskanzleramtsminister die Agenda 2010 mit zu verantworten und nie eingestanden, dass das ein Fehler war. Ein Bundespräsident muss die Themen Gleichwertigkeit, oder wie ich es nenne, Gleichwürdigkeit mehr leben. Da tut Herr Steinmeier viel zu wenig.